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Fragmente eines Ungenannten Einl. 1. Teil Einl. 2. Teil Auferst. Gegens. V Zweck (Vorr.) I II,1 II,2

EIN MEHRERES AUS DEN PAPIEREN DES UNGENANNTES,
die Offenbarung betreffend

Gegensätze des Herausgebers

Und nun genug dieser Fragmente! - Wer von meinen Lesern mir sie aber lieber ganz geschenkt hätte, der ist sicherlich furchtsamer, als unterrichtet. Er kann ein sehr frommer Christ sein, aber ein sehr aufgeklärter ist er gewiß nicht. Er kann es mit seiner Religion herzlich gut meinen: nur müßte er ihr auch mehr zutrauen.
Denn wie vieles läßt sich noch auf alle diese Einwürfe und Schwierigkeiten antworten! Und wenn sich auch schlechterdings nichts darauf antworten ließ: was dann? Der gelehrte Theolog könnte am Ende darüber verlegen sein: aber auch der Christ? Der gewiß nicht. Jenem höchstens könnte es zur Verwirrung gereichen, die Stützen, welche er der Religion unterziehen wollen, so erschüttert zu sehen; die Strebepfeiler so niedergerissen zu finden, mit welcher er, wenn Gott will, sie so schön verwahret hatte. Aber was gehen dem Christen dieses Mannes Hypothesen, und Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchen er sich so selig fühlet. - Wenn der Paralyticus die wohltätigen Schläge des Elektrischen Funkens erfähret: was kümmert es ihn, ob Nollet, oder ob Franklin, oder ob keiner von beiden Recht hat? -
Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist: und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion.
Denn die Bibel enthält offenbar Mehr als zur Religion gehöriges: und es ist bloße Hypothes, daß sie in diesem Mehrern gleich unfehlbar sein müsse. Auch war die Religion ehe eine Bibel war. Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhängen: so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der Religion auf ihnen beruhen. War ein Zeitraum, in welchem sie bereits so ausgebreitet war, in welchen sie bereits sich so vieler Seelen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwohl noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen: so muß es auch möglich sein, daß alles, was Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gänge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestände. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer innern Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erkläret werden, und alle schriftlichen Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat.
Diese also wäre die allgemeine Antwort auf einen großen Teil dieser Fragmente, - wie gesagt, in dem schlimmsten Falle. In dem Falle, daß der Christ, welcher zugleich Theolog ist, in dem Geiste seines angenommenen Systems, nichts Befriedigendes darauf zu antworten wisse. Aber ob er das weiß, woher soll er selbst die Erfahrung haben, woher sollen wir es ihm zutrauen, wenn es nicht erlaubt sein soll, alle Arten von Einwürfen frei und trocken herauszusagen? Es ist falsch, daß schon alle Einwürfe gesagt sind. Noch falscher ist es, daß sie alle schon beantwortet wären. Ein großer Teil wenigstens ist eben so elend beantwortet, als elend gemacht worden. Seichtigkeit und Spötterei der einen Seite, hat man nicht selten mit Stolz und Naserümpfen auf der andern erwidert. Man hat sich sehr beleidiget gefunden, wenn der eine Teil Religion und Aberglauben für eins genommen: aber man hat sich kein Gewissen gemacht, Zweifel für Unglauben, Begnügsamkeit mit dem, was die Vernunft sagt, für Ruchlosigkeit auszuschreien. Dort hat man jeden Gottesgelehrten zum Pfaffen, hier jeden Weltweisen zum Gottesleugner herabgewürdiget. So hat der eine und der andere seinen Gegner zu einem Ungeheuer umgeschaffen, um ihn, wenn er ihn nicht besiegen kann, wenigstens vogelfrei erklären zu dürfen.
Wahrlich, er soll noch erscheinen, auf beiden Seiten soll er noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und der, welcher die Religion so verteidiget, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfodert. Mit alle den Kenntnissen, aller der Wahrheitsliebe, alle dem Ernste! - Stürme auf einzelne Bastionen wagen und abschlagen, heißt weder belagern noch entsetzen. Und gleichwohl ist bisher noch wenig mehr geschehen. Kein Feind hat noch die Feste ganz eingeschlossen; keiner noch einen allgemeinen Sturm auf ihre gesamten Werke zugleich gewagt. Immer ist nur irgend ein Außenwerk, und oft ein sehr unbeträchtliches angegriffen, aber auch nicht selten von den Belagerten mit mehr Hitze als Klugheit verteidiget worden. Denn ihre gewöhnliche Maxime war, alles Geschütz auf den einzigen angegriffenen Ort zusammen zu führen; unbekümmert, ob indes ein anderer Feind an einem andern Orte den entblößten Wall übersteige oder nicht. Ich will sagen: ein einzelner Beweis ward oft, zum Nachteil aller andern, ja zu seinem eigenen, überspannt; ein Nagel sollte alles halten, und hielt nichts. Ein einzelner Einwurf ward oft so beantwortet, als ob er der einzige wäre, und oft mit Dingen, die ihren eignen Einwürfen noch sehr ausgesetzt waren. Noch ein unbesonneneres Verfahren war es, wenn man das angegriffene Werk ohne alle Gegenwehr verließ, dem Feinde mit Verachtung Preis gab, und sich in ein anderes zog. Denn so hat man sich nach und nach aus allen Werken nicht vertreiben, sondern verscheuchen lassen, und wird nun bald genötiget sein, sich wieder in das zuerst verlassene zu werfen. Wer in den neuesten Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion ein wenig belesen ist, dem werden die Exempel zu jedem Gliede dieser Allegorie leicht beifallen.
Wie nahe unser Verfasser dem Ideale eines echten Bestreiters der Religion gekommen, läßt sich aus diesen Fragmenten zwar einigermaßen schließen, aber nicht hinlänglich erkennen. Raum genug scheinet er mit seinen Laufgräben eingenommen zu haben, und mit Ernst gehet er zu Werke. - Möchte er bald einen Mann erwecken, der dem Ideale eines echten Verteidigers der Religion nur eben so nahe käme!
Und nicht diesem Manne vorzugreifen, sondern bloß urteilen zu lassen, wie vieles nun er erst zu sagen haben würde, und hiernächst dem ersten Panischen Schrecken zu steuren, das einen kleinmütigen Leser befallen könnte, eile ich, jedem Fragmente insbesondere einige Gedanken beizufügen, die sich mir aufgedrungen haben. Wenn ich aber damit mehr tue, als ich gleich anfangs tun zu dürfen die Erlaubnis bat, so geschieht es, weil ich den Ton der Verhöhnung verabscheue, in den ich leicht fallen könnte, wenn ich nur jenes tun wollte. Freilich gibt es der Männer genug, welche itzt die Religion so verteidigen, als ob sie von ihren Feinden ausdrücklich bestochen wären, sie zu untergraben. Allein es wäre Verleumdung der Religion, wenn ich zu verstehen geben wollte, daß gleichwohl diese Männer nur noch allein vor dem Riß stünden. Ja woher weiß ich, ob nicht auch diese Männer die besten Absichten von der Welt haben? Wann sie nicht ihre Absichten schützen sollen, was wird mich schützen, wenn ich das Ziel eben so weit verfehle?

V.

Über die Widersprüche in der Auferstehungsgeschichte, welche das fünfte Fragment uns so nahe legt, dächte ich nun so.
§ Die Zeugen der Auferstehung Christi sind nicht die nämlichen Personen, die uns die Nachricht von der Aussage dieser Zeugen überliefert haben. Denn wenn schon in einem und dem andern beide Charaktere zusammen kommen, so ist doch unwidersprechlich, daß kein einziger Evangelist bei allen und jeden Erscheinungen Christi gegenwärtig gewesen.
§ Folglich sind zweierlei Widersprüche hier möglich. Widersprüche unter den Zeugen, und Widersprüche unter den Geschichtschreibern der Aussage dieser Zeugen.
§ Sind Widersprüche unter den Zeugen vorhanden? - Dergleichen könnten nur sein, wenn ein Evangelist über den einzeln Fall, bei welchem er selbst Augenzeuge gewesen, sich selbst widerspräche: oder wenigstens, wenn mehrere Evangelisten über den nämlichen einzeln Fall, bei welchem jeder gegenwärtig gewesen, sich unter einander widersprächen. Dergleichen Widersprüche sind mir unbekannt.
§ Sind Widersprüche unter den Zeugen vorhanden gewesen? - Anscheinende: warum nicht? Denn die Erfahrung gibt es, und es kann schlechterdings nicht anders sein, als daß von mehrern Zeugen nicht jeder die nämliche Sache, an dem nämlichen Orte, zu der nämlichen Zeit, anders sehen, anders hören, folglich anders erzählen sollte. Denn eines jeden Aufmerksamkeit ist anders gestimmt. Ich halte es sogar für unmöglich, daß der nämliche Zeuge von dem nämlichen Vorfalle, den er mit aller vorsätzlichen Aufmerksamkeit beobachtete, zu verschiedenen Zeiten die nämliche Aussage machen könne. Denn die Erinnerung des Menschen von der nämlichen Sache ist zu verschiedenen Zeiten verschieden. Er müßte denn seine Aussage auswendig gelernt haben: aber alsdann sagt er nicht, wie er sich der Sache itzt erinnerlich ist, sondern wie er sich derselben zu der Zeit, als er seine Aussage auswendig lernte, erinnerlich war.
§ Sind wahre Widersprüche unter den Zeugen vorhanden gewesen? solche, die bei keiner billigen Vergleichung, bei keiner nähern Erklärung verschwinden? - Woher sollen wir das wissen? Wir wissen ja nicht einmal, ob jemals die Zeugen gehörig vernommen worden? Wenigstens ist das Protokoll über dieses Verhör nicht mehr vorhanden; und wer Ja sagt, hat in diesem Betracht eben soviel Grund für sich, als wer Nein sagt.
§ Nur daß, wer Nein sagt, eine sehr gesetzliche Vermutung für sich anführen kann, die jener nicht kann. Diese nämlich. Der große Proceß, welcher von der glaubwürdigen Aussage dieser Zeugen abhing, ist gewonnen. Das Christentum hat über die Heidnische und Jüdische Religion gesiegt. Es ist da.
§ Und wir sollten geschehen lassen, daß man uns diesen gewonnenen Proceß nach den unvollständigen, unconcertierten Nachrichten von jenen, wie aus dem Erfolge zu schließen, glaubwürdigen und einstimmigen Zeugnissen, nochmals nach zwei tausend Jahren revidieren wolle? Nimmermehr.
§ Vielmehr: so viel Widersprüche in den Erzählungen der Evangelisten, als man will! - Es sind nicht die Widersprüche der Zeugen, sondern der Geschichtschreiber; nicht der Aussagen, sondern der Nachrichten von diesen Aussagen.
§ Aber der heilige Geist ist bei diesen Nachrichten wirksam gewesen. - Ganz recht; nämlich dadurch, daß er jeden zu schreiben getrieben, wie ihm die Sache nach seinem besten Wissen und Gewissen bekannt gewesen.
§ Wenn sie nun dem einen so, dem andern anders bekannt war, bekannt sein mußte? - Sollte der heilige Geist in dem Augenblicke, da sie die Feder ergriffen, lieber ihre verschiednen Vorstellungen einförmig, und eben durch diese Einförmigkeit verdächtig machen, oder sollte er zugeben, daß die Verschiedenheit beibehalten wurde, auf die itzt gar nichts mehr ankömmt?
§ Sagt man, Verschiedenheiten sind keine Widersprüche? - Was sie nicht sind, das werden sie in dem zweiten und dritten Munde. Was Verschiedenheit bei den Augenzeugen war, wird Widerspruch bei denen, welche die Sache nur von Hörensagen haben.
§ Nur ein fortdauerndes Wunder hätte es verhindern können, daß in den 30 bis 40 Jahren, ehe Evangelisten schrieben, solche Ausartungen der mündlichen Erzählung von der Auferstehung sich nicht eräugnet hätten. Aber was für Recht haben wir, dieses Wunder anzunehmen? Und was dringt uns, es anzunehmen?
§ Wer sich irgend einen solchen Drang mutwillig schafft, der hab es. Aber er wisse auch, was ihm sodann obliegt: alle die Widersprüche zu heben, die sich in den verschiedenen Erzählungen der Evangelisten finden; und sie auf eine leichtere, natürlichere Art zu heben, als es in den gewöhnlichen Harmonien geschehen ist.
§ Daß er dabei sich ja nicht auf dieses und jenes Werk zu sehr verlasse, dessen vielversprechender Titel ihm etwa nur bekannt ist. Ditton hat freilich die Wahrheit der christlichen Religion aus der Auferstehung demonstrativisch erwiesen. Aber er hat die Widersprüche der Evangelisten ganz übergangen; entweder weil er glaubte, daß diese Widersprüche schon längst auf die unwidersprechlichste Weise gehoben wären, - woran ich zweifle; oder weil er dafür hielt, daß seine Demonstration, ohngeachtet aller dieser Widersprüche, in ihrer ganzen Stärke bestehen könne, - wie auch mich dünkt.
§ Eben so ist Th. Sherlok in seiner gerichtlichen Prüfung der Zeugen der Auferstehung verfahren. Er erhärtet, daß die eigentlichen Zeugen allen Glauben verdienen; aber auf die Widersprüche in den Erzählungen der Evangelisten läßt er sich nicht ein.
§ Der einzige Gilbert West hat diese Widersprüche zum Teil mit in seinen Plan ziehen zu müssen geglaubt. Wen indes seine ewige Vervielfältigung der nämlichen Personen und Erscheinungen beruhigen kann, der muß so schwer eben nicht zu beruhigen sein.
§ Folglich findet der Mann, der die Untrüglichkeit der Evangelien in jedem Worte behauptet, auch hier noch unbearbeitetes Feld genug. Er versuche es nun, und beantworte die gerügten zehn Widersprüche unsers Fragments. Aber er beantworte sie alle. Denn diesem und jenen nur etwas wahrscheinliches entgegen setzen, und die übrigen mit triumphierender Verachtung übergehen, heißt keinen beantworten.

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