Religionskritik
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Nietzsche (Inhalt)
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Friedrich Nietzsche
Der Antichrist
Fluch auf das Christentum
20
Mit meiner Verurteilung des Christentums möchte ich
kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen
haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt:
gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische
Religionen zusammen - sie sind décadence-Religionen -,
beide sind von einander in der merkwürdigsten
Weise getrennt. Daß man sie jetzt vergleichen kann,
dafür ist der Kritiker des Christentums den indischen
Gelehrten tief dankbar. - Der Buddhismus ist hundertmal
realistischer als das Christentum, - er hat die Erbschaft
des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im
Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden
philosophischen Bewegung; der Begriff "Gott" ist
bereits abgetan, als er kommt. Der Buddhismus ist die
einzige eigentlich positivistische Religion, die uns
die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnistheorie
(einem strengen Phänomenalismus -), er sagt
nicht mehr "Kampf gegen die Sünde", sondern, ganz
der Wirklichkeit das Recht gebend, "Kampf gegen das
Leiden". Er hat - dies unterscheidet ihn tief vom
Christentum - die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe
bereits hinter sich, - er steht, in meiner Sprache geredet,
jenseits von Gut und Böse. - Die zwei physiologischen
Tatsachen, auf denen er ruht und die er ins
Auge faßt, sind: einmal eine übergroße Reizbarkeit
der Sensibilität, welche sich als raffinierte Schmerzfähigkeit
ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein
allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren,
unter dem der Person-Instinkt zum Vorteil des "Unpersönlichen"
Schaden genommen hat (- beides Zustände,
die wenigstens einige meiner Leser, die "Objektiven",
gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen werden). Auf
Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine
Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch
vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an,
das Wanderleben; die Mäßigung und die Wahl in der
Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht
insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die
das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für
andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe
geben oder erheitern - er erfindet Mittel, die anderen
sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütigsein
als gesundheit-fördernd. Gebet ist ausgeschlossen,
ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ,
kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der
Klostergemeinschaft (- man kann wieder hinaus -).
Das alles wären Mittel, um jene übergroße Reizbarkeit
zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf
gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen
nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung,
des ressentiment (- "nicht durch Feindschaft
kommt Feindschaft zu Ende": der rührende Refrain des
ganzen Buddhismus ...). Und das mit Recht: gerade
diese Affekte wären vollkommen ungesund in Hinsicht
auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung,
die er vorfindet und die sich in einer allzu großen
"Objektivität" (das heißt Schwächung des Individual-Interesses,
Verlust an Schwergewicht, an "Egoismus") ausdrückt,
bekämpft er mit einer strengen Zurückführung
auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der
Lehre Buddhas wird der Egoismus Pflicht: das "Eins
ist not", das "wie kommst du vom Leiden los" reguliert
und begrenzt die ganze geistige Diät (- man darf sich
vielleicht an jenen Athener erinnern, der der reinen
"Wissenschaftlichkeit" gleichfalls den Krieg machte, an
Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der
Probleme zur Moral erhob).
21
Die Voraussetzung für den Buddhismus ist ein sehr
mildes Klima, eine große Sanftmut und Liberalität in
den Sitten, kein Militarismus; und daß es die höheren
und selbst gelehrten Stände sind, in denen die Bewegung
ihren Herd hat. Man will die Heiterkeit, die Stille, die
Wunschlosigkeit als höchstes Ziel, und man erreicht
sein Ziel. Der Buddhismus ist keine Religion, in der
man bloß auf Vollkommenheit aspiriert: das Vollkommene
ist der normale Fall. -
Im Christentume kommen die Instinkte Unterworfner
und Unterdrückter in den Vordergrund: es sind die niedersten
Stände, die in ihm ihr Heil suchen. Hier wird
als Beschäftigung, als Mittel gegen die Langeweile
die Kasuistik der Sünde, die Selbstkritik, die Gewissens-Inquisition
geübt; hier wird der Affekt gegen einen
Mächtigen, "Gott" genannt, beständig aufrecht erhalten
(durch das Gebet); hier gilt das Höchste als unerreichbar,
als Geschenk, als "Gnade". Hier fehlt auch
die Öffentlichkeit; der Versteck, der dunkle Raum ist
christlich. Hier wird der Leib verachtet, die Hygiene
als Sinnlichkeit abgelehnt; die Kirche wehrt sich selbst
gegen die Reinlichkeit (- die erste christliche Maßregel
nach Vertreibung der Mauren war die Schließung der
öffentlichen Bäder, von denen Kordova allein 270 besaß).
Christlich ist ein gewisser Sinn der Grausamkeit, gegen
sich und andre; der Haß gegen die Andersdenkenden;
der Wille, zu verfolgen. Düstere und aufregende Vorstellungen
sind im Vordergrunde; die höchstbegehrten,
mit den höchsten Namen bezeichneten Zustände sind Epilepsoiden;
die Diät wird so gewählt, daß sie morbide Erscheinungen
begünstigt und die Nerven überreizt: Christlich
ist die Todfeindschaft gegen die Herren der Erde,
gegen die "Vornehmen" - und zugleich ein versteckter
heimlicher Wettbewerb (- man läßt ihnen den "Leib",
man will nur die "Seele" ...). Christlich ist der Haß
gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Freiheit, Libertinage
des Geistes; christlich ist der Haß gegen die Sinne,
gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freude überhaupt ...
22
Das Christentum, als es seinen ersten Boden verließ,
die niedrigsten Stände, die Unterwelt der antiken Welt,
als es unter Barbaren-Völkern nach Macht ausging, hatte
hier nicht mehr müde Menschen zur Voraussetzung, sondern
innerlich verwilderte und sich zerreißende, - den
starken Menschen, aber den mißratnen. Die Unzufriedenheit
mit sich, das Leiden an sich ist hier nicht wie bei
dem Buddhisten eine übermäßige Reizbarkeit und Schmerzfähigkeit,
vielmehr umgekehrt ein übermächtiges Verlangen
nach Wehe-tun, nach Auslassung der inneren
Spannung in feindseligen Handlungen und Vorstellungen.
Das Christentum hatte barbarische Begriffe und
Werte nötig, um über Barbaren Herr zu werden: solche
sind das Erstlingsopfer, das Bluttrinken im Abendmahl,
die Verachtung des Geistes und der Kultur; die Folterung
in allen Formen, sinnlich und unsinnlich; der große
Pomp des Kultus. Der Buddhismus ist eine Religion für
späte Menschen, für gütige, sanfte, übergeistig gewordne
Rassen, die zu leicht Schmerz empfinden (- Europa ist
noch lange nicht reif für ihn -): er ist eine Rückführung
derselben zu Frieden und Heiterkeit, zur Diät im Geistigen,
zu einer gewissen Abhärtung im Leiblichen. Das
Christentum will über Raubtiere Herr werden; sein
Mittel ist, sie krank zu machen, - die Schwächung ist
das christliche Rezept zur Zähmung, zur "Zivilisation".
Der Buddhismus ist eine Religion für den Schluß
und die Müdigkeit der Zivilisation, das Christentum findet
sie noch nicht einmal vor, - es begründet sie unter
Umständen.
23
Der Buddhismus, nochmals gesagt, ist hundertmal kälter,
wahrhafter, objektiver. Er hat nicht mehr nötig,
sich sein Leiden, seine Schmerzfähigkeit anständig zu
machen durch die Interpretation der Sünde, - er sagt
bloß, was er denkt, "ich leide". Dem Barbaren dagegen
ist Leiden an sich nichts Anständiges: er braucht erst
eine Auslegung, um es sich einzugestehn, daß er leidet
(sein Instinkt weist ihn eher auf Verleugnung des Leidens,
auf stilles Ertragen hin). Hier war das Wort
"Teufel" eine Wohltat: man hatte einen übermächtigen
und furchtbaren Feind, - man brauchte sich nicht zu
schämen, an einem solchen Feind zu leiden. -
Das Christentum hat einige Feinheiten auf dem Grunde,
die zum Orient gehören. Vor allem weiß es, daß es an
sich ganz gleichgültig ist, ob etwas wahr ist, aber von
höchster Wichtigkeit, sofern es als wahr geglaubt wird.
Die Wahrheit und der Glaube, daß etwas wahr sei:
zwei ganz auseinanderliegende Interessen-Welten, fast
Gegensatz-Welten, - man kommt zum einen und zum
andern auf grundverschiednen Wegen. Hierüber wissend
zu sein - das macht im Orient beinahe den Weisen: so
verstehn es die Brahmanen, so versteht es Plato, so jeder
Schüler esoterischer Weisheit. Wenn zum Beispiel ein
Glück darin liegt, sich von der Sünde erlöst zu glauben,
so tut als Voraussetzung dazu nicht not, daß der Mensch
sündig sei, sondern daß er sich sündig fühlt. Wenn aber
überhaupt vor allem Glaube not tut, so muß man die Vernunft,
die Erkenntnis, die Forschung in Mißkredit bringen:
der Weg zur Wahrheit wird zum verbotnen Weg.
- Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans
des Lebens, als irgend ein einzelnes wirklich eintretendes
Glück. Man muß Leidende durch eine Hoffnung aufrecht
erhalten, welcher durch keine Wirklichkeit widersprochen
werden kann, - welche nicht durch eine Erfüllung
abgetan wird: eine Jenseits-Hoffnung. (Gerade
wegen dieser Fähigkeit, den Unglücklichen hinzuhalten,
galt die Hoffnung bei den Griechen als Übel der Übel,
als das eigentlich tückische Übel: es blieb im Faß der
Übels zurück). - Damit Liebe möglich ist, muß Gott
Person sein; damit die untersten Instinkte mitreden können,
muß Gott jung sein. Man hat für die Inbrunst der
Weiber einen schönen Heiligen, für die der Männer eine
Maria in den Vordergrund zu rücken. Dies unter der
Voraussetzung, daß das Christentum auf einem Boden
Herr werden will, wo aphrodisische oder Adonis-Kulte den
Begriff des Kultus bereits bestimmt haben. Die Forderung
der Keuschheit verstärkt die Vehemenz und Innerlichkeit
des religiösen Instinkts - sie macht den Kultus
wärmer, schwärmerischer, seelenvoller. - Die Liebe ist
der Zustand, wo der Mensch die Dinge am meisten so
sieht wie sie nicht sind. Die illusorische Kraft ist da
auf ihrer Höhe, ebenso die versüßende, die verklärende
Kraft. Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man
duldet alles. Es galt eine Religion zu erfinden, in der geliebt
werden kann: damit ist man über das Schlimmste
am Leben hinaus, - man sieht es gar nicht mehr. - So
viel über die drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe,
Hoffnung: ich nenne sie die drei christlichen Klugheiten. -
Der Buddhismus ist zu spät, zu positivistisch dazu, um noch auf
diese Weise klug zu sein. -
24
Ich berühre hier nur das Problem der Entstehung
des Christentums. Der erste Satz zu dessen Lösung
heißt: das Christentum ist einzig aus dem Boden zu
verstehn, aus dem es gewachsen ist, - es ist nicht
eine Gegenbewegung gegen den jüdischen Instinkt, es
ist dessen Folgerichtigkeit selbst, ein Schluß weiter in
dessen furchteinflößender Logik. In der Formel des Erlösers:
"das Heil kommt von den Juden". - Der zweite
Satz heißt: der psychologische Typus des Galiläers ist
noch erkennbar, aber erst in seiner vollständigen Entartung
(die zugleich Verstümmlung und Überladung mit
fremden Zügen ist -) hat er dazu dienen können, wozu
er gebraucht worden ist, zum Typus eines Erlösers der
Menschheit. -
Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte,
weil sie, vor die Frage von Sein und Nichtsein
gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewußtheit
das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser
Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller
Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt
so gut als der äußeren. Sie grenzten sich ab gegen alle
Bedingungen, unter denen bisher ein Volk leben konnte,
leben durfte; sie schufen aus sich einen Gegensatz-Begriff
zu natürlichen Bedingungen, - sie haben,
der Reihe nach, die Religion, den Kultus, die Moral, die
Geschichte, die Psychologie auf eine unheilbare Weise
in den Widerspruch zu deren Natur-Werten umgedreht.
Wir begegnen demselben Phänomene noch einmal
und in unsäglich vergrößerten Proportionen, trotzdem
nur als Kopie: - die christliche Kirche entbehrt,
im Vergleich zum "Volk der Heiligen", jedes Anspruchs
auf Originalität. Die Juden sind, ebendamit, das verhängnisvollste
Volk der Weltgeschichte: in ihrer
Nachwirkung haben sie die Menschheit dermaßen falsch
gemacht, daß heute noch der Christ antijüdisch fühlen
kann, ohne sich als die letzte jüdische Konsequenz
zu verstehn.
Ich habe in meiner "Genealogie der Moral" zum ersten
Male den Gegensatz-Begriff einer vornehmen Moral
und einer ressentiment-Moral psychologisch vorgeführt,
letztere aus dem Nein gegen die erstere entsprungen:
aber die ist die jüdisch-christliche Moral ganz und gar.
Um nein sagen zu können zu allem, was die aufsteigende
Bewegung des Lebens, die Wohlgeratenheit, die
Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt,
mußte hier sich der Genie gewordne Instinkt des
ressentiment eine andre Welt erfinden, von wo aus jene
Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche
an sich erschien. Psychologisch nachgerechnet, ist
das jüdische Volk ein Volk der zähesten Lebenskraft,
welches, unter unmögliche Bedingungen versetzt, freiwillig,
aus der tiefsten Klugheit der Selbsterhaltung,
die Partei aller décadence-Instinkte nimmt, - nicht als
von ihnen beherrscht, sondern weil es in ihnen eine Macht
erriet, mit der man sich gegen "die Welt" durchsetzen
kann. Die Juden sind das Gegenstück aller décadents:
sie haben sie darstellen müssen bis zur Illusion, sie
haben sich, mit einem non plus ultra des schauspielerischen Genies,
an die Spitze aller décadence-Bewegungen
zu stellen gewußt (- als Christentum des Paulus -),
um aus ihnen etwas zu schaffen, das stärker ist als jede
Ja-sagende Partei des Lebens. Die décadence ist, für
die im Juden- und Christentum zur Macht verlangende
Art von Mensch, eine priesterliche Art, nur Mittel:
diese Art von Mensch hat ein Lebens-Interesse daran, die
Menschheit krank zu machen und die Begriffe "gut"
"böse", "wahr" und "falsch" in einen lebensgefährlichen
und weltverleumderischen Sinn umzudrehn. -
25
Die Geschichte Israels ist unschätzbar als typische
Geschichte aller Entnatürlichung der Natur-Werte:
ich deute fünf Tatsachen derselben an. Ursprünglich,
vor allem in der Zeit des Königtums, stand auch Israel
zu allen Dingen in der richtigen, das heißt der natürlichen
Beziehung. Sein Javeh war der Ausdruck des
Macht-Bewußtseins, der Freude an sich, der Hoffnung
auf sich: in ihm erwartete man Sieg und Heil, mit ihm
vertraute man der Natur, daß sie gibt, was das Volk
nötig hat - vor allem Regen. Javeh ist der Gott
Israels und folglich Gott der Gerechtigkeit: die Logik
jedes Volkes, das in Macht ist und ein gutes Gewissen
davon hat. Im Fest-Kultus drücken sich diese beiden
Seiten der Selbstbejahung eines Volkes aus: es ist dankbar
für die großen Schicksale, durch die es obenauf kam,
es ist dankbar im Verhältnis zum Jahreskreislauf und
allem Glück in Viehzucht und Ackerbau. - Dieser Zustand
der Dinge blieb noch lange das Ideal, auch als er
auf eine traurige Weise abgetan war: die Anarchie im
Innern, der Assyrer von außen. Aber das Volk hielt
als höchste Wünschbarkeit jene Vision eines Königs fest,
der ein guter Soldat und ein strenger Richter ist: vor
allem jener typische Prophet (das heißt Kritiker und
Satiriker des Augenblicks) Jesaia. - Aber jede Hoffnung
blieb unerfüllt. Der alte Gott konnte nichts mehr
von dem, was er ehemals konnte. Man hätte ihn fahren
lassen sollen. Was geschah? Man veränderte seinen
Begriff, - man entnatürlichte seinen Begriff: um
diesen Preis hielt man ihn fest. - Javeh der Gott der
"Gerechtigkeit", - nicht mehr eine Einheit mit Israel,
ein Ausdruck des Volks-Selbstgefühls: nur noch ein Gott
unter Bedingungen ... Sein Begriff wird ein Werkzeug
in den Händen priesterlicher Agitatoren, welche
alles Glück nunmehr als Lohn, alles Unglück als Strafe
für Ungehorsam gegen Gott, für "Sünde" interpretieren:
jene verlogenste Interpretations-Manier einer angeblich
"sittlichen Weltordnung", mit der, ein für allemal, der
Naturbegriff "Ursache" und "Wirkung" auf den Kopf
gestellt ist. Wenn man erst, mit Lohn und Strafe, die
natürliche Kausalität aus der Welt geschafft hat, bedarf
man einer widernatürlichen Kausalität: der ganze
Rest von Unnatur folgt nunmehr. Ein Gott, der fordert, -
an Stelle eines Gottes, der hilft, der Rat schafft,
der im Grunde das Wort ist für jede glückliche Inspiration
des Muts und des Selbstvertrauens ... Die Moral
nicht mehr der Ausdruck der Lebens- und Wachstums-Bedingungen
eines Volks, nicht mehr sein unterster Instinkt
des Lebens, sondern abstrakt geworden, Gegensatz
zum Leben geworden, - Moral als grundsätzliche Verschlechterung
der Phantasie, als "böser Blick" für alle
Dinge. Was ist jüdische, was ist christliche Moral? Der
Zufall um seine Unschuld gebracht; das Unglück mit
dem Begriff "Sünde" beschmutzt; das Wohlbefinden als
Gefahr, als "Versuchung"; das physiologische Übelbefinden
mit dem Gewissens-Wurm vergiftet ...
26
Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht: -
die jüdische Priesterschaft blieb dabei nicht
stehn. Man konnte die ganze Geschichte Israels nicht
brauchen: fort mit ihr! - Diese Priester haben jenes
Wunderwerk von Fälschung zustande gebracht, als deren
Dokument uns ein guter Teil der Bibel vorliegt: sie
haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn
ohnegleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische
Realität, ins Religiöse übersetzt, das heißt,
aus ihr einen stupiden Heils-Mechanismus von Schuld
gegen Javeh und Strafe, von Frömmigkeit gegen Javeh
und Lohn gemacht. Wir würden diesen schmachvollsten
Akt der Geschichts-Fälschung viel schmerzhafter empfinden,
wenn uns nicht die kirchliche Geschichts-Interpretation
von Jahrtausenden fast stumpf für die Forderungen
der Rechtschaffenheit in historicis gemacht hätte.
Und der Kirche sekundierten die Philosophen: die Lüge
der "sittlichen Weltordnung" geht durch die ganze Entwicklung
selbst der neueren Philosophie. Was bedeutet
"sittliche Weltordnung"? Daß es, ein für allemal, einen
Willen Gottes gibt, was der Mensch zu tun, was er zu
lassen habe; daß der Wert eines Volkes, eines einzelnen
sich danach bemesse, wie sehr oder wie wenig dem Willen
Gottes gehorcht wird; daß in den Schicksalen eines Volkes,
eines einzelnen sich der Wille Gottes als herrschend,
das heißt als strafend und belohnend, je nach
dem Grade des Gehorsams, beweist. - Die Realität
an Stelle dieser erbarmungswürdigen Lüge heißt: eine
parasitische Art Mensch, die nur auf Kosten aller gesunden
Bildungen des Lebens gedeiht, der Priester,
mißbraucht den Namen Gottes: er nennt einen Zustand
der Dinge, in dem der Priester den Wert der Dinge
bestimmt, "das Reich Gottes"; er nennt die Mittel, vermöge
deren ein solcher Zustand erreicht oder aufrecht
erhalten wird, "den Willen Gottes"; er mißt, mit einem
kaltblütigen Zynismus, die Völker, die Zeiten, die einzelnen
danach ab, ob sie der Priester-Übermacht nützten
oder widerstrebten. Man sehe sie am Werk: unter den
Händen der jüdischen Priester wurde die große Zeit in
der Geschichte Israels eine Verfalls-Zeit, das Exil, das
lange Unglück verwandelte sich in eine ewige Strafe
für die große Zeit - eine Zeit, in der der Priester noch
nichts war. Sie haben aus den mächtigen, sehr frei
geratenen Gestalten der Geschichte Israels, je nach Bedürfnis,
armselige Ducker und Mucker oder "Gottlose"
gemacht, sie haben Psychologie jedes großen Ereignisses
auf die Idioten-Formel "Gehorsam oder Ungehorsam
gegen Gott" vereinfacht. - Ein Schritt weiter: der
"Wille Gottes" (das heißt die Erhaltungs-Bedingungen
für die Macht des Priesters) muß bekannt sein, - zu
diesem Zwecke bedarf es einer "Offenbarung". Auf
deutsch: eine große literarische Fälschung wird nötig,
eine "heilige Schrift" wird entdeckt, - unter allem hieratischen
Pomp, mit Bußtagen und Jammergeschrei über
die lange "Sünde" wird sie öffentlich gemacht. Der
"Wille Gottes" stand längst fest: das ganze Unheil liegt
darin, daß man sich der "heiligen Schrift" entfremdet
hat ... Moses schon war der "Wille Gottes" offenbart ...
Was war geschehen? Der Priester hatte, mit
Strenge, mit Pedanterie, bis auf die großen und kleinen
Steuern, die man ihm zu zahlen hatte (- die schmackhaftesten
Stücke vom Fleisch nicht zu vergessen: denn
der Priester ist ein Beefsteak-Fresser), ein für allemal
formuliert, was er haben will, "was der Wille Gottes
ist" ... Von nun an sind alle Dinge des Lebens so geordnet,
daß der Priester überall unentbehrlich ist;
in allen natürlichen Vorkommnissen des Lebens, bei der
Geburt, der Ehe, der Krankheit, dem Tode, gar nicht
vom "Opfer" (der Mahlzeit) zu reden, erscheint der heilige
Parasit, um sie zu entnatürlichen, - in seiner
Sprache: zu "heiligen" ... Denn dies muß man begreifen:
jede natürliche Sitte, jede natürliche Institution
(Staat, Gerichtsordnung, Ehe, Kranken- und Armenpflege),
jede vom Instinkt des Lebens eingegebene Forderung,
kurz alles, was seinen Wert in sich hat, wird
durch den Parasitismus des Priesters (oder der "sittlichen
Weltordnung") grundsätzlich wertlos, wert-widrig gemacht:
es bedarf nachträglich einer Sanktion, - eine
wertverleihende Macht tut not, welche die Natur
darin verneint, welche eben damit erst einen Wert
schafft ... Der Priester entwertet, entheiligt die
Natur: um diesen Preis besteht er überhaupt. - Der Ungehorsam
gegen Gott, das heißt gegen den Priester,
gegen "das Gesetz", bekommt nun den Namen "Sünde";
die Mittel, sich wieder "mit Gott zu versöhnen", sind,
wie billig, Mittel, mit denen die Unterwerfung unter den
Priester nur noch gründlicher gewährleistet ist: der
Priester allein "erlöst" ... Psychologisch nachgerechnet,
werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die
"Sünden" unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben
der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er
hat nötig, daß "gesündigt" wird ... Oberster Satz:
"Gott vergibt Dem, der Buße tut" - auf deutsch: der
sich dem Priester unterwirft. -
27
Auf einem dergestalt falschen Boden, wo jede Natur,
jeder Naturwert, jede Realität die tiefsten Instinkte
der herrschenden Klasse wider sich hatte, wuchs das
Christentum auf, eine Todfeindschafts-Form gegen
die Realität, die bisher nicht übertroffen worden ist. Das
"heilige Volk", das für alle Dinge nur Priester-Werte,
nur Priester-Worte übrig behalten hatte und mit einer
Schluß-Folgerichtigkeit, die Furcht einflößen kann, alles
was sonst noch an Macht auf Erden bestand, als "unheilig",
als "Welt", als "Sünde" von sich abgetrennt hatte,
- dies Volk brachte für seinen Instinkt eine letzte Formel
hervor, die logisch war bis zur Selbstverneinung: es
verneinte, als Christentum, noch die letzte Form
der Realität, das "heilige Volk", das "Volk der Ausgewählten",
die jüdische Realität selbst. Der Fall ist ersten
Rangs: die kleine aufständische Bewegung, die auf den
Namen des Jesus von Nazareth getauft wird, ist der
jüdische Instinkt noch einmal, - anders gesagt, der
Priester-Instinkt, der den Priester als Realität nicht mehr
verträgt, die Erfindung einer noch abgezogeneren Daseinsform,
einer noch unrealeren Vision der Welt, als
sie die Organisation einer Kirche bedingt. Das Christentum
verneint die Kirche ...
Ich sehe nicht ab, wogegen der Aufstand gerichtet
war, als dessen Urheber Jesus verstanden oder mißverstanden
worden ist, wenn es nicht der Aufstand
gegen die jüdische Kirche war, - "Kirche" genau in dem
Sinn genommen, in dem wir heute das Wort nehmen.
Es war ein Aufstand gegen "die Guten und Gerechten",
gegen "die Heiligen Israels", gegen die Hierarchie der
Gesellschaft - nicht gegen deren Verderbnis, sondern
gegen die Kaste, das Privilegium, die Ordnung, die Formel;
es war der Unglaube an die "höheren Menschen",
das Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologe
war. Aber die Hierarchie, die damit, wenn auch nur
für einen Augenblick, in Frage gestellt wurde, war der
Pfahlbau, auf dem das jüdische Volk, mitten im "Wasser",
überhaupt noch fortbestand, - die mühsam errungene
letzte Möglichkeit, übrig zu bleiben, das Residuum
seiner politischen Sonder-Existenz: ein Angriff auf sie
war ein Angriff auf den tiefsten Volks-Instinkt, auf den
zähesten Volks-Lebenswillen, der je auf Erden dagewesen
ist. Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die
Ausgestoßnen und "Sünder", die Tschandalas innerhalb
des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende
Ordnung aufrief - mit einer Sprache, falls den
Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach
Sibirien führen würde, war ein politischer Verbrecher,
soweit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen
Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte
ihn ans Kreuz: der Beweis dafür ist die Aufschrift des
Kreuzes. Er starb für seine Schuld, - es fehlt
jeder Grund dafür, so oft es auch behauptet worden ist,
daß er für die Schuld andrer starb. -
28
Eine vollkommen andre Frage ist es, ob er einen solchen
Gegensatz überhaupt im Bewußtsein hatte, - ob er nicht
bloß als dieser Gegensatz empfunden wurde. Und hier
erst berühre ich das Problem der Psychologie des Erlösers. -
Ich bekenne, daß ich wenige Bücher mit solchen
Schwierigkeiten lese wie die Evangelien. Diese Schwierigkeiten
sind andre als die, an deren Nachweis die gelehrte
Neugierde des deutschen Geistes einen ihrer unvergeßlichsten
Triumphe gefeiert hat. Die Zeit ist fern, wo
auch ich, gleich jedem jungen Gelehrten, mit der klugen
Langsamkeit eines raffinierten Philologen das Werk des
unvergleichlichen Strauß auskostete. Damals war ich
zwanzig Jahre alt: jetzt bin ich zu ernst dafür. Was
gehen mich die Widersprüche der "Überlieferung" an?
Wie kann man Heiligen-Legenden überhaupt "Überlieferung"
nennen! Die Geschichte von Heiligen sind die
zweideutigste Literatur, die es überhaupt gibt: auf sie
die wissenschaftliche Methode anwenden, wenn sonst
keine Urkunden vorliegen, scheint mir von vornherein
verurteilt, - bloß gelehrter Müßiggang ...
29
Was mich angeht, ist der psychologische Typus des
Erlösers. Derselbe könnte ja in den Evangelien enthalten
sein trotz den Evangelien, wie sehr auch immer
verstümmelt oder mit fremden Zügen überladen: wie der
des Franziskus von Assisi in seinen Legenden erhalten
ist trotz seinen Legenden. Nicht die Wahrheit darüber,
was er getan, was er gesagt, wie er eigentlich gestorben
ist: sondern die Frage, ob sein Typus überhaupt noch
vorstellbar, ob er "überliefert" ist? - Die Versuche,
die ich kenne, aus den Evangelien sogar die Geschichte
einer "Seele" herauszulesen, scheinen mir Beweis einer
verabscheuungswürdigen psychologischen Leichtfertigkeit.
Herr Renan, dieser Hanswurst in psychologicis, hat die
zwei ungehörigsten Begriffe zu seiner Erklärung des
Typus Jesus hinzugebracht, die es hierfür geben kann:
den Begriff Genie und den Begriff Held ("héros").
Aber wenn irgend etwas unevangelisch ist, so ist es der
Begriff Held. Gerade der Gegensatz zu allem Ringen,
zu allem Sich-In-Kampf-fühlen ist hier Instinkt geworden:
die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral
("widerstehe nicht dem Bösen!" das tiefste Wort der
Evangelien, ihr Schlüssel in gewissem Sinne), die Seligkeit
im Frieden, in der Sanftmut, in Nicht-feind-sein-können.
Was heißt "frohe Botschaft"? Das wahre
Leben, das ewige Leben ist gefunden, - es wird nicht
verheißen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe,
in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz.
Jeder ist das Kind Gottes - Jesus nimmt durchaus
nichts für sich allein in Anspruch -, als Kind Gottes
ist jeder mit jedem gleich ... Aus Jesus einen Helden
machen! - Und was für ein Mißverständnis ist gar das
Wort "Genie"! Unser ganzer Begriff, unser Kultur-Begriff
"Geist" hat in der Welt, in der Jesus lebt, gar
keinen Sinn. Mit der Strenge des Physiologen gesprochen,
wäre hier ein ganz andres Wort eher noch am Platz ...
Wir kennen einen Zustand krankhafter Reizbarkeit des
Tastsinns, der dann vor jeder Berührung, vor jedem
Anfassen eines festen Gegenstandes zurückschaudert.
Man übersetze sich einen solchen physiologischen habitus
in seine letzte Logik - als Instinkt-Haß gegen jede
Realität, als Flucht ins "Unfaßliche", ins "Unbegreifliche",
als Widerwille gegen jede Formel, jeden Zeit-
und Raumbegriff, gegen alles, was fest, Sitte, Institution,
Kirche ist, als Zu-Hause-sein in einer Welt, an die keine
Art Realität mehr rührt, einer bloß noch "inneren" Welt,
einer "wahren" Welt, einer "ewigen" Welt ... "Das
Reich Gottes ist in euch" ...
30
Der Instinkt-Haß gegen die Realität: Folge
einer extremen Leid- und Reizfähigkeit, welche überhaupt
nicht mehr "berührt" werden will, weil sie jede
Berührung zu tief empfindet.
Die Instinkt-Ausschließung aller Abneigung,
aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen
im Gefühl: Folge einer extremen Leid- und Reizfähigkeit,
welche jedes Widerstreben, Widerstreben-müssen
bereits als unerträgliche Unlust (das heißt als schädlich,
als vom Selbsterhaltungs-Instinkte widerraten)
empfindet und die Seligkeit (die Lust) allein darin kennt,
nicht mehr, niemandem mehr, weder dem Übel noch dem
Bösen, Widerstand zu leisten, - die Liebe als einzige,
als letzte Lebens-Möglichkeit ...
Dies sind die zwei physiologischen Realitäten,
auf denen, aus denen die Erlösungs-Lehre gewachsen ist.
Ich nenne sie eine sublime Weiter-Entwicklung des Hedonismus
auf durchaus morbider Grundlage. Nächstverwandt,
wenn auch mit einem großen Zuschuß von griechischer
Vitalität und Nervenkraft, bleibt ihr der
Epikureismus, die Erlösungs-Lehre des Heidentums. Epikur
ein typischer décadent: zuerst von mir als
solcher erkannt. - Die Furcht vor Schmerz, selbst vor
dem Unendlich-Kleinen im Schmerz - sie kann gar
nicht anders enden als in einer Religion der Liebe ...
31
Ich habe meine Antwort auf das Problem vorweg gegeben.
Die Voraussetzung für sie ist, daß der Typus des
Erlösers uns nur in einer starken Entstellung erhalten
ist. Diese Entstellung hat an sich viel Wahrscheinlichkeit:
ein solcher Typus konnte aus mehreren Gründen
nicht rein, nicht ganz, nicht frei von Zutaten bleiben.
Es muß sowohl das Milieu, in dem sich diese fremde
Gestalt bewegte, Spuren an ihm hinterlassen haben, als
noch mehr die Gemeinde, das Schicksal der ersten
christlichen Gemeinde: aus ihm wurde, rückwirkend, der
Typus mit Zügen bereichert, die erst aus dem Kriege
und zu Zwecken der Propaganda verständlich werden.
Jene seltsame und kranke Welt, in die uns die Evangelien
einführen - eine Welt, wie aus einem russischen
Romane, in der sich Auswurf der Gesellschaft, Nervenleiden
und "kindliches" Idiotentum ein Stelldichein zu
geben scheinen - muß unter allen Umständen den Typus
vergröbert haben: die ersten Jünger insonderheit
übersetzten ein ganz in Symbolen und Unfaßlichkeiten
schwimmendes Sein erst in die eigne Krudität, um überhaupt
etwas davon zu verstehn, - für sie war der Typus
erst nach einer Einformung in bekanntere Formen
vorhanden ... Der Prophet, der Messias, der zukünftige
Richter, der Morallehrer, der Wundermann, Johannes
der Täufer - ebenso viele Gelegenheiten, den Typus zu
verkennen ... Unterschätzen wir endlich das proprium
aller großen, namentlich sektiererischen Verehrung nicht:
sie löscht die originalen, oft peinlich-fremden Züge und
Idiosynkrasien an dem verehrten Wesen aus - sie sieht
sie selbst nicht. Man hätte zu bedauern, daß nicht
ein Dostoiewsky in der Nähe dieses interessantesten décadent
gelebt hat, ich meine, jemand, der gerade den ergreifenden
Reiz einer solchen Mischung von Sublimem,
Krankem und Kindlichem zu empfinden wußte. Ein
letzter Gesichtspunkt: der Typus könnte, als décadence-Typus,
tatsächlich von einer eigentümlichen Vielheit und
Widersprüchlichkeit gewesen sein: eine solche Möglichkeit
ist nicht völlig auszuschließen. Trotzdem rät alles
ab von ihr: gerade die Überlieferung würde für diesen
Fall eine merkwürdig treue und objektive sein müssen:
wovon wir Gründe haben das Gegenteil anzunehmen.
Einstweilen klafft ein Widerspruch zwischen dem Berg-,
See- und Wiesen-Prediger, dessen Erscheinung wie ein
Buddha auf einem sehr wenig indischen Boden anmutet,
und jenem Fanatiker des Angriffs, dem Theologen- und
Priester-Todfeind, den Renans Bosheit als "le grand
maître en ironie" verherrlicht hat. Ich selber zweifle
nicht daran, daß das reichliche Maß Galle (und selbst
von esprit) erst aus dem erregten Zustand der christlichen
Propaganda auf den Typus des Meisters übergeflossen
ist: man kennt ja reichlich die Unbedenklichkeit
aller Sektierer, aus ihrem Meister sich ihre Apologie
zurecht zu machen. Als die erste Gemeinde einen
richtenden, hadernden, zürnenden, bösartig spitzfindigen
Theologen nötig hatte, gegen Theologen, schuf sie sich
ihren "Gott" nach ihrem Bedürfnisse: wie sie ihm auch
jene völlig unevangelischen Begriffe, die sie jetzt nicht
entbehren konnte, "Wiederkunft", "jüngstes Gericht",
jede Art zeitlicher Erwartung und Verheißung, ohne
Zögern in den Mund gab. -
Religionskritik
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