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Friedrich Nietzsche

Der Antichrist

Fluch auf das Christentum

Vorwort
Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch keiner von ihnen. Es mögen Die sein, welche meinen Zarathustra verstehn: wie dürfte ich mich mit denen verwechseln, für welche heute schon Ohren wachsen? - Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren.
Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann mit Notwendigkeit versteht, - ich kenne sie nur zu genau. Man muß rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur meinen Ernst, meine Leidenschaft auszuhalten. Man muß geübt sein, auf Bergen zu leben, - das erbärmliche Zeitgeschwätz von Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehn. Man muß gleichgültig geworden sein, man muß nie fragen, ob die Wahrheit nützt, ob sie Einem Verhängnis wird ... Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen niemand heute den Mut hat; der Mut zum Verbotenen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten. Und der Wille zur Ökonomie großen Stils: seine Kraft, seine Begeisterung beisammen behalten ... Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen sich ...
Wohlan! Das allein sind meine Leser, meine rechten Leser, meine vorherbestimmten Leser: was liegt am Rest? - Der Rest ist bloß die Menschheit. - Man muß der Menschheit überlegen sein durch Kraft, durch Höhe der Seele, - durch Verachtung ...
Friedrich Nietzsche

1
- Sehn wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer - wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. "Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden": das hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes - unser Leben, unser Glück . . . Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? - Der moderne Mensch etwa? - "Ich weiß nicht aus noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß" - seufzt der moderne Mensch ... An dieser Modernität waren wir krank, - am faulen Frieden, am feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die alles "verzeiht", weil sie alles "begreift", ist Schirokko für uns. Lieber im Eise leben, als unter modernen Tugenden und andern Südwinden! ... Wir waren tapfer genug, wir schonten weder uns noch andere: aber wir wußten lange nicht, wohin mit unsrer Tapferkeit. Wir wurden düster, man hieß uns Fatalisten. Unser Fatum - das war die Fülle, die Spannung, die Stauung der Kräfte. Wir dürsteten nach Blitz und Taten, wir blieben am fernsten vom Glück der Schwächlinge, von der "Ergebung" ... Ein Gewitter war in unsrer Luft, die Natur, die wir sind, verfinsterte sich - denn wir hatten keinen Weg. Formel unsres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel ...

2
Was ist gut? - Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? - Alles, was aus der Schwäche stammt.
Was ist Glück? - Das Gefühl davon, daß die Macht wächst, - daß ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtu, moralinfreie Tugend).
Die Schwachen und Mißratnen sollen zugrunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher, als irgend ein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen - das Christentum ...

3
Nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem, das ich hiermit stelle (- der Mensch ist ein Ende -): sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höherwertigeren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren.
Dieser höherwertigere Typus ist oft genug schon dagewesen: aber als ein Glücksfall, als eine Ausnahme, niemals als gewollt. Vielmehr ist er gerade am besten gefürchtet worden, er war bisher beinahe das Furchtbare; - und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Haustier, das Herdentier, das kranke Tier Mensch, - der Christ ...

4
Die Menschheit stellt nicht eine Entwicklung zum Besseren oder Stärkeren oder Höheren dar, in der Weise, wie dies heute geglaubt wird. Der "Fortschritt" ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Europäer von heute bleibt in seinem Werte tief unter dem Europäer der Renaissance; Fortentwicklung ist schlechterdings nicht mit irgend welcher Notwendigkeit Erhöhung, Steigerung, Verstärkung.
In einem anderen Sinne gibt es ein fortwährendes Gelingen einzelner Fälle an den verschiedensten Stellen der Erde und aus den verschiedensten Kulturen heraus, mit denen in der Tat sich ein höherer Typus darstellt: etwas, das im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit eine Art Übermensch ist. Solche Glücksfälle des großen Gelingens waren immer möglich und werden vielleicht immer möglich sein. Und selbst ganze Geschlechter, Stämme, Völker können unter Umständen einen solchen Treffer darstellen.

5
Man soll das Christentum nicht schmücken und herausputzen: es hat einen Todkrieg gegen diesen höheren Typus Mensch gemacht, es hat alle Grundinstinkte dieses Typus in Bann getan, es hat aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestilliert: - der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der "verworfene Mensch". Das Christentum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Mißratnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig stärksten Naturen verdorben, indem es die obersten der Geistigkeit als sündhaft, als irreführend, als Versuchungen empfinden lehrte. Das jammervollste Beispiel: die Verderbnis Pascals, der an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben war! -

6
Es ist ein schmerzliches, ein schauerliches Schauspiel, das mir aufgegangen ist: ich zog den Vorhang weg von der Verdorbenheit des Menschen. Dies Wort, in meinem Munde, ist wenigstens gegen Einen Verdacht geschützt: daß es eine moralische Anklage des Menschen enthält. Es ist - ich möchte es nochmals unterstreichen - moralinfrei gemeint: und dies bis zu dem Grade, daß jene Verdorbenheit gerade dort von mir am stärksten empfunden wird, wo man bisher am bewußtesten zur "Tugend", zur "Göttlichkeit" asprierte. Ich verstehe Verdorbenheit, man errät es bereits, im Sinne von décadence: meine Behauptung ist, daß alle Werte, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfaßt, décadence-Werte sind.
Ich nenne ein Tier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachteilig ist. Eine Geschichte der "höheren Gefühle", der "Ideale der Menschheit" - und es ist möglich, daß ich sie erzählen muß - wäre beinahe auch die Erklärung dafür, weshalb der Mensch so verdorben ist. Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachstum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, gibt es Niedergang. Meine Behauptung ist, daß allen obersten Werten der Menschheit dieser Wille fehlt, - daß Niedergangs-Werte, nihilistische Werte unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen.

7
Man nennt das Christentum die Religion des Mitleidens. - Das Mitleiden steht im Gegensatz zu den tonischen Affekten, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhn: es wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleidet. Durch das Mitleiden vermehrt und vervielfältigt sich die Einbuße an Kraft noch, die an sich schon das Leiden dem Leben bringt. Das Leiden selbst wird durch das Mitleiden ansteckend; unter Umständen kann mit ihm eine Gesamt-Einbuße an Leben und Lebens-Energie erreicht werden, die in einem absurden Verhältnis zum Quantum der Ursache steht (- der Fall vom Tode des Nazareners). Das ist der erste Gesichtspunkt; es gibt aber noch einen wichtigeren. Gesetzt, man mißt das Mitleiden nach dem Werte der Reaktionen, die es hervorzubringen pflegt, so erscheint sein lebensgefährlicher Charakter in einem noch viel helleren Lichte. Das Mitleiden kreuzt im ganzen großen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zugunsten der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch die Fülle des Mißratnen aller Art, das es im Leben festhält, dem Leben selbst einen düstern und fragwürdigen Aspekt. Man hat gewagt, das Mitleiden eine Tugend zu nennen (- in jeder vornehmen Moral gilt es als Schwäche -); man ist weitergegangen, man hat aus ihm die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht, - nur freilich, was man stets im Auge behalten muß, vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die Verneinung des Lebens auf ihr Schild schrieb. Schopenhauer war in seinem Recht damit: durch das Mitleid wird das Leben verneint, verneinungswürdiger gemacht. - Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus. Nochmals gesagt: dieser depressive und kontagiöse Instinkt kreuzt jene Instinkte, welche auf Erhaltung und Wert-Erhöhung des Lebens aus sind: er ist ebenso als Multiplikator des Elends wie als Konservator alles Elenden ein Hauptwerkzeug zur Steigerung der décadence, - Mitleiden überredet zum Nichts! ... Man sagt nicht "nichts": man sagt dafür "jenseits"; oder "Gott"; oder "das wahre Leben"; oder Nirvana, Erlösung, Seligkeit ... Diese unschuldige Rhetorik aus dem Reich der religiös-moralischen Idiosynkrasie erscheint sofort viel weniger unschuldig, wenn man begreift, welche Tendenz hier den Mantel sublimer Worte um sich schlägt: die lebensfeindliche Tendenz. Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend ... Aristoteles sah, wie man weiß, im Mitleiden einen krankhaften und gefährlichen Zustand, dem man gut täte, hier und da durch ein Purgativ beizukommen: er verstand die Tragödie als Purgativ. Vom Instinkte des Lebens aus müßte man in der Tat nach einem Mittel suchen, einer solchen krankhaften und gefährlichen Häufung des Mitleids, wie sie der Fall Schopenhauers (und leider auch unsre gesamte literarische und artistische décadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner) darstellt, einen Stich zu versetzen: damit sie platzt ... Nichts ist ungesunder, inmitten unsrer ungesunden Modernität, als das christliche Mitleid. Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen - das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen, wir Hyperboreer! ---

8
Es ist notwendig zu sagen, wen wir als unsern Gegensatz fühlen: - die Theologen und alles, was Theologen-Blut im Leibe hat - unsre ganze Philosophie ... Man muß das Verhängnis aus der Nähe gesehn haben, noch besser, man muß es an sich erlebt, man muß an ihm fast zugrunde gegangen sein, um hier keinen Spaß mehr zu verstehn (- die Freigeisterei unsrer Herrn Naturforscher und Physiologen ist in meinen Augen ein Spaß, - ihnen fehlt die Leidenschaft in diesen Dingen, das Leiden an ihnen -). Jene Vergiftung reicht viel weiter, als man denkt: ich fand den Theologen-Instinkt des Hochmuts überall wieder, wo man sich heute als "Idealist" fühlt, - wo man, vermöge einer höheren Abkunft, ein Recht in Anspruch nimmt, zur Wirklichkeit überlegen und fremd zu blicken ... Der Idealist hat, ganz wie der Priester, alle großen Begriffe in der Hand (- und nicht nur in der Hand!), er spielt sie mit einer wohlwollenden Verachtung gegen den "Verstand", die "Sinne", die "Ehren", das "Wohlleben", die "Wissenschaft" aus, er sieht dergleichen unter sich, wie schädigende und verführerische Kräfte, über denen "der Geist" in reiner Für-sich-heit schwebt; - als ob nicht Demut, Keuschheit, Armut, Heiligkeit mit Einem Wort, dem Leben bisher unsäglich mehr Schaden getan hätten, als irgend welche Furchtbarkeiten und Laster ... Der reine Geist ist die reine Lüge ... So lange der Priester noch als eine höhere Art Mensch gilt, dieser Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf, gibt es keine Antwort auf die Frage: was ist Wahrheit? Man hat bereits die Wahrheit auf den Kopf gestellt, wenn der bewußte Advokat des Nichts und der Verneinung als Vertreter der "Wahrheit" gilt ...

9
Diesem Theologen-Instinkte mache ich den Krieg: ich fand seine Spur überall. Wer Theologen-Blut im Leibe hat, steht von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich. Das Pathos, das sich daraus entwickelt, heißt sich Glaube: das Auge ein für allemal vor sich schließen, um nicht am Aspekt unheilbarer Falschheit zu leiden. Man macht bei sich eine Moral, eine Tugend, eine Heiligkeit aus dieser fehlerhaften Optik zu allen Dingen, man knüpft das gute Gewissen an das Falsch-sehen, - man fordert, daß keine andre Art Optik mehr Wert haben dürfe, nachdem man die eigne mit den Namen "Gott", "Erlösung", "Ewigkeit" sakrosankt gemacht hat. Ich grub den Theologen-Instinkt noch überall aus: er ist die verbreitetste, die eigentlich unterirdische Form der Falschheit, die es auf Erden gibt. Was ein Theologe als wahr empfindet, daß muß falsch sein: man hat daran beinahe ein Kriterium der Wahrheit. Es ist sein unterster Selbsterhaltungs-Instinkt, der verbietet, daß die Realität in irgend einem Punkte zu Ehren oder auch nur zu Wort käme. So weit der Theologen-Einfluß reicht, ist das Wert-Urteil auf den Kopf gestellt, sind die Begriffe "wahr" und "falsch" notwendig umgekehrt: was dem Leben am schädlichsten ist, das heißt hier "wahr", was es hebt, steigert, bejaht, rechtfertigt und triumphieren macht, das heißt "falsch" ... Kommt es vor, daß Theologen durch das "Gewissen" der Fürsten (oder der Völker -) hindurch nach der Macht die Hand ausstrecken, zweifeln wir nicht, was jedesmal im Grunde sich begibt: der Wille zum Ende, der nihilistische Wille will zur Macht ...

10
Unter Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologen-Blut verderbt ist. Der protestantische Pfarrer ist Großvater der deutschen Philosophie, der Protestantismus selbst ihm peccatum originale. Definition des Protestantismus: die halbseitige Lähmung des Christentums - und der Vernunft ... Man hat nur das Wort "Tübinger Stift" auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist, - eine hinterlistige Theologie ... Die Schwaben sind die besten Lügner in Deutschland, sie lügen unschuldig ... Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die deutsche Gelehrtenwelt ging, die zu drei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrer-Söhnen besteht, - woher die deutsche Überzeugung, die auch heute noch ihr Echo findet, daß mit Kant eine Wendung zum Besseren beginne? Der Theologen-Instinkt im deutschen Gelehrten erriet, was nunmehr wieder möglich war ... Ein Schleichweg zum alten Ideal stand offen, der Begriff "wahre Welt", der Begriff der Moral als Essenz der Welt (- diese zwei bösartigsten Irrtümer, die es gibt!) waren jetzt wieder, dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch nicht mehr widerlegbar ... Die Vernunft, das Recht der Vernunft reicht nicht so weit ... Man hatte aus der Realität eine "Scheinbarkeit" gemacht; man hatte eine vollkommen erlogne Welt, die des Seienden, zur Realität gemacht ... Der Erfolg Kants ist bloß ein Theologen-Erfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibniz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit --

11
Ein Wort noch gegen Kant als Moralist. Eine Tugend muß unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem andern Sinne ist sie bloß eine Gefahr. Was nicht unser Leben bedingt, schadet ihm: eine Tugend bloß aus einem Respekts-Gefühle vor dem Begriff "Tugend", wie Kant es wollte, ist schädlich. Die "Tugend", die "Pflicht", das "Gute an sich", das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit - Hirngespinste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung der Lebens, das Königsberger Chinesentum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachstumsgesetzen geboten: daß jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zugrunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt verwechselt. Nichts ruiniert tiefer, innerlicher als jede "unpersönliche" Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion. - Daß man den kategorischen Imperativ Kants nicht als lebensgefährlich empfunden hat! ... Der Theologen-Instinkt allein nahm ihn in Schutz! - Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand ... Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust zu arbeiten, denken, fühlen? als Automat der "Pflicht"? Es ist geradezu das Rezept zur décadence, selbst zum Idiotismus ... Kant wurde Idiot. - Und das war der Zeitgenosse Goethes! Dies Verhängnis von Spinne galt als der deutsche Philosoph, - gilt es noch! ... Ich hüte micht zu sagen, was ich von den Deutschen denke ... Hat Kant nicht in der französischen Revolution den Übergang aus der unorganischen Form des Staats in die organische gesehn? Hat er sich nicht gefragt, ob es eine Begebenheit gibt, die gar nicht anders erklärt werden könne als durch eine moralische Anlage der Menschheit, so daß mit ihr, ein für allemal, die "Tendenz der Menschheit zum Guten" bewiesen sei? Antwort Kants: "das ist die Revolution." Der fehlgreifende Instinkt in allem und jedem, die Widernatur als Instinkt, die deutsche décadence als Philosophie - das ist Kant! -

12
Ich nehme ein paar Skeptiker beiseite, den anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie: aber der Rest kennt die ersten Forderungen der intellektuellen Rechtschaffenheit nicht. Sie machen es allesamt wie die Weiblein, alle diese großen Schwärmer und Wundertier, - sie halten die "schönen Gefühle" bereits für Argumente, den "gehobenen Busen" für einen Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung für ein Kriterium der Wahrheit. Zuletzt hat noch Kant, in "deutscher" Unschuld, diese Form der Korruption, diesen Mangel an intellektuellem Gewissen unter dem Begriff "praktische Vernunft" zu verwissenschaftlichen versucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchem Falle man sich nicht um die Vernunft zu kümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die erhabne Forderung "du sollst" laut wird. Erwägt man, daß bei fast allen Völkern der Philosoph nur die Weiterentwicklung des priesterlichen Typus ist, so überrascht dieses Erbstück des Priesters, die Falschmünzerei vor sich selbst, nicht mehr. Wenn man heilige Aufgaben hat, zum Beispiel die Menschen zu bessern, zu retten, zu erlösen, - wenn man die Gottheit im Busen trägt, Mundstück jenseitiger Imperative ist, so steht man mit einer solchen Mission bereits außerhalb aller bloß verstandesmäßigen Wertungen, - selbst schon geheiligt durch eine solche Aufgabe, selbst schon der Typus einer höheren Ordnung! ... Was geht einen Priester die Wissenschaft an! Er steht zu hoch dafür! - Und der Priester hat bisher geherrscht! - Er bestimmte den Begriff "wahr" und "unwahr"! ...

13
Unterschätzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine "Umwertung aller Werte", eine leibhaftige Kriegs- und Siegs-Erklärung an alle alten Begriffe von "wahr" und "unwahr". Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden; aber die wertvollsten Einsichten sind die Methoden. Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaftlichkeit haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf sie hin war man aus dem Verkehre mit "honetten" Menschen ausgeschlossen, - man galt als "Feind Gottes", als Verächter der Wahrheit, als "Besessener". Als wissenschaftlicher Charakter war man Tschandala ... Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt - ihren Begriff von Dem, was Wahrheit sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll: jedes "du sollst" war bisher gegen uns gerichtet ... Unsre Objekte, unsre Praktiken, unsre stille, vorsichtige, mißtrauische Art - alles das schien ihr vollkommen unwürdig und verächtlich. - Zuletzt dürfte man, mit einiger Billigkeit, sich fragen, ob es nicht eigentlich ein ästhetischer Geschmack war, was die Menschheit in so langer Blindheit gehalten hat: sie verlangte von der Wahrheit einen pittoresken Effekt, sie verlangte insgleichen vom Erkennenden, daß er stark auf die Sinne wirke. Unsre Bescheidenheit ging ihr am längsten wider den Geschmack ... O wie sie das errieten, diese Truthähne Gottes --

14
Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom "Geist", von der "Gottheit" ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit ... Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte - freilich, mit alledem, auch das interessanteste! - Was die Tiere betrifft, so hat zuerst Descartes, mit verehrungswürdiger Kühnheit, den Gedanken gewagt, das Tier als machina zu verstehn: unsre ganze Physiologie bemüht sich um den Beweis dieses Satzes. Auch stellen wir logischerweise den Menschen nicht beiseite, wie noch Descartes tat: was überhaupt heute vom Menschen begriffen ist, geht genau so weit, als er machinal begriffen ist. Ehedem gab man dem Menschen, als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung, den "freien Willen": heute haben wir ihm selbst den Willen genommen, in dem Sinne, daß darunter kein Vermögen mehr verstanden werden darf. Das alte Wort "Wille" dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die notwendig auf eine Menge teils widersprechender, teils zusammenstimmender Reize folgt: - der Wille "wirkt" nicht mehr, "bewegt" nicht mehr ... Ehemals sah man im Bewußtsein des Menschen, im "Geist", den Beweis seiner höheren Abkunft, seiner Göttlichkeit; um den Menschen zu vollenden, riet man ihm an, nach der Art der Schildkröte die Sinne in sich hineinzuziehn, den Verkehr mit dem Irdischen einzustellen, die sterbliche Hülle abzutun: dann blieb die Hauptsache von ihm zurück, der "reine Geist". Wir haben uns auch hierüber besser besonnen: das Bewußtwerden, der "Geist", gilt uns gerade als Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnötig viel Nervenkraft verbraucht wird, - wir leugnen, daß irgend etwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es noch bewußt gemacht wird. Der "reine Geist" ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die "sterbliche Hülle", so verrechnen wir uns - weiter nichts! ...

15
Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen ("Gott", "Seele", "Ich", "Geist", "der freie Wille" - oder auch "der unfreie"); lauter imaginäre Wirkungen ("Sünde", "Erlösung", "Gnade", "Strafe", "Vergebung der Sünde"). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen ("Gott", "Geister", "Seelen"); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, - "Reue", "Gewissensbiß", "Versuchung des Teufels", "die Nähe Gottes"); eine imaginäre Teleologie ("das Reich Gottes", "das jüngste Gericht", "das ewige Leben"). - Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, daß letztere die Wirklichkeit widerspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwertet, verneint. Nachdem erst der Begriff "Natur" als Gegenbegriff zu "Gott" erfunden war, mußte "natürlich" das Wort sein für "verwerflich", - jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Haß gegen das Natürliche (- die Wirklichkeit! -), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen ... Aber damit ist alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein ... Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht gibt aber die Formel ab für décadence ...

16
Zu dem gleichen Schlusse nötigt eine Kritik des christlichen Gottesbegriffs. - Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, - es projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern ... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. - Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können, - man bewundert ihn im guten wie im schlimmen. Die widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit ... Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? - Freilich: wenn ein Volk zugrunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten, dann muß sich auch sein Gott verändern. Es wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, rät zum "Frieden der Seele", zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur "Liebe" selbst gegen Freund und Feind. Es moralisiert beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit ... Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott ... In der Tat, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht - und so lange werden sie Volksgötter sein -, oder aber die Ohnmacht zur Macht - und dann werden sie notwendig gut ...

17
Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichen Tugenden und Trieben, wird nunmehr notwendig zum Gott der Physiologisch-Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich "die Guten" ... Man versteht, ohne daß ein Wink noch not täte, in welchen Augenblicken der Geschichte erst die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum "Guten an sich" herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus; sie nehmen Rache an ihren Herren, dadurch daß sie deren Gott verteufeln. - Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: beide Ausgeburten der décadence. - Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu dekretieren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom "Gotte Israels", vom Volksgott zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten, sei ein Fortschritt? - Aber selbst Renan tut es. Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! Das Gegenteil springt doch in die Augen. Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriff eliminiert werden, wenn er Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkende heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excellence wird, und das Prädikat "Heiland", "Erlöser" gleichsam übrig-bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Verwandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? - Freilich: "das Reich Gottes" ist damit größer geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein "auserwähltes" Volk. Inzwischen ging er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er saß seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der große Kosmopolit, - bis er "die große Zahl" und die halbe Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott der "großen Zahl", der Demokrat unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt! ... Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelts-Reich, ein Hospital, ein souterrain-Reich, ein Getto-Reich ... Und er selbst, so blaß, so schwach, so decadent ... Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum, bis er, hypnotisiert durch ihre Bewegungen, selbst Spinne, selbst Metaphysikus wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus - sub specie Spinozae -, nunmehr transfigurierte er sich ins immer Dünnere und Blässere, ward "Ideal", ward "reiner Geist", ward "Absolutum", ward "Ding an sich" ... Verfall eines Gottes: Gott ward "Ding an sich" ...

18
Der christliche Gottesbegriff - Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist - ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des "Diesseits", für jede Lüge vom "Jenseits"! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! ...

19
Daß die starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben, macht ihrer religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, - um nicht vom Geschmacke zu reden. Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch dafür auf ihnen, daß sie nicht mit ihm fertig geworden sind: sie haben die Krankheit, das Alter, den Widerspruch in alle ihre Instinkte aufgenommen, - sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus! Dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben! --

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