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Arthur Schopenhauer

Parerga und Paralipomena II

KAPITEL XV.

UEBER RELIGION.

§. 174.
Ein Dialog.

DEMOPHELES. Unter uns gesagt, lieber alter Freund, es gefällt mir nicht, daß du gelegentlich deine philosophische Befähigung durch Sarkasmen, ja, offenbaren Spott über die Religion an den Tag legst. Der Glaube eines Jeden ist ihm heilig, sollte es daher auch dir seyn.

PHILALETHES. Nego consequentiam! Sehe nicht ein, warum ich, der Einfalt der Andern wegen, Respekt vor Lug und Trug haben sollte. Die Wahrheit achte ich überall; eben darum aber nicht was ihr entgegensteht. Mein Wahlspruch ist: vigeat veritas, et pereat mundus, dem der Juristen angepaßt: fiat justitia, et pereat mundus.. Jede Fakultät sollte einen analogen zur Devise haben.

DEMOPHELES. Da würde der der medicinischen wohl lauten: tornentur pilulae, et pereat mundus, - welcher am leichtesten in Erfüllung zu bringen wäre.

PHILALETHES. Bewahre der Himmel! Alles cum grano salis.

DEMOPHELES. Nun gut: eben darum aber wollte ich, daß du auch die Religion cum grano salis verständest und einsähest, daß dem Bedürfniß des Volks nach Maaßgabe seiner Fassungskraft begegnet werden muß. Die Religion ist das einzige Mittel, dem rohen Sinn und ungelenken Verstande der in niedriges Treiben und materielle Arbeit tief eingesenkten Menge die hohe Bedeutung des Lebens anzukündigen und fühlbar zu machen. Denn der Mensch, wie er in der Regel ist, hat ursprünglich für nichts Anderes Sinn, als für die Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse und Gelüste, und danach für etwas Unterhaltung und Kurzweil. Religionsstifter und Philosophen kommen auf die Welt, ihn aus seiner Betäubung aufzurütteln und auf den hohen Sinn des Daseyns hinzudeuten: Philosophen, für die Wenigen, die Eximirten; Religionsstifter, für die Vielen, die Menschheit im Großen. Denn philosophon plehtos adynaton einai, wie schon dein Plato gesagt hat und du nicht vergessen solltest. Die Religion ist die Metaphysik des Volks, die man ihm schlechterdings lassen und daher sie äußerlich achten muß: denn sie diskreditiren heißt sie ihm nehmen. Wie es eine Volkspoesie giebt und, in den Sprichwörtern, eine Volksweisheit; so muß es auch eine Volksmetaphysik geben. Sie ist allemal eine allegorische Einkleidung der Wahrheit, der Fassungskraft des Volkes angemessen, und leistet, in praktischer und gemüthlicher Hinsicht, d.h. als Richtschnur für das Handeln und als Beruhigung und Trost im Leiden und im Tode, vielleicht eben so viel, als die Wahrheit, wenn wir sie besäßen, selbst leisten könnte. Daher, mein Lieber, ist, nimm mir's nicht übel, sie zu verspotten, beschränkt und ungerecht zugleich.

PHILALETHES. Aber ist es nicht eben so beschränkt und ungerecht, zu verlangen, daß es keine andere Metaphysik, als diese, nach dem Bedürfniß und der Fassungskraft des Volkes zugeschnittene, geben solle? daß ihre Lehren der Markstein des menschlichen Forschens und die Richtschnur alles Denkens seyn sollen, so daß auch die Metaphysik der Wenigen und Eximirten, wie du sie nennst, hinauflaufen müsse auf Bestätigung, Befestigung und Erläuterung jener Metaphysik des Volks? daß also die höchsten Kräfte des menschlichen Geistes unbenutzt und unentwickelt bleiben, ja, im Keim erstickt werden sollen, damit nicht etwan ihre Thätigkeit sich mit jener Volksmetaphysik durchkreuze? Und steht es denn, bei den Prätensionen der Religion, im Grunde anders? Ziemt es Dem, Toleranz, ja, zarte Schonung zu predigen, der die Intoleranz und Schonungslosigkeit selbst ist? Ich rufe Ketzergerichte und Inquisitionen, Religionskriege und Kreuzzüge, Sokrates' Becher und Bruno's Scheiterhaufen zum Zeugen an! Und ist es nun damit zwar heut zu Tage vorbei; was kann dem ächten philosophischen Streben, dem aufrichtigen Forschen nach Wahrheit, diesem edelsten Beruf edelster Menschheit, mehr im Wege stehn, als jene konventionelle, vom Staate mit dem Monopol belehnte Metaphysik, deren Satzungen jedem Kopfe, in frühester Jugend, eingeprägt werden, so ernstlich, so tief, so fest, daß sie, wenn er nicht von mirakuloser Elasticität ist, unauslöschlich haften, wodurch seiner gesunden Vernunft Ein für alle Mal das Koncept verrückt wird, d.h. seine ohnehin schwache Fähigkeit zum eigenen Denken und unbefangenen Urtheilen, hinsichtlich auf alles damit Zusammenhangende, auf immer gelähmt und verdorben ist.

DEMOPHELES. Eigentlich heißt dies wohl, die Leute haben alsdann eine Ueberzeugung gewonnen, die sie nicht aufgeben wollen, um die Deinige dagegen anzunehmen.

PHILALETHES. O, wenn es auf Einsicht gegründete Ueberzeugung wäre! Der wäre mit Gründen beizukommen und uns stände das Feld zum Kampfe mit gleichen Waffen offen. Allein die Religionen wenden sich ja eingeständlich nicht an die Ueberzeugung, mit Gründen, sondern an den Glauben, mit Offenbarungen. Zu diesem letzteren ist nun aber die Fähigkeit am stärksten in der Kindheit: daher ist man, vor Allem, darauf bedacht, sich dieses zarten Alters zu bemächtigen. Hiedurch, viel mehr noch, als durch Drohungen und Berichte von Wundern, schlagen die Glaubenslehren Wurzel. Wenn nämlich dem Menschen, in früher Kindheit, gewisse Grundansichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Miene des höchsten, bis dahin von ihm noch nie gesehenen Ernstes wiederholt vorgetragen werden, dabei die Möglichkeit des Zweifels daran ganz übergangen, oder aber nur berührt wird, um darauf als den ersten Schritt zum ewigen Verderben hinzudeuten; da wird der Eindruck so tief ausfallen, daß, in der Regel, d.h. in fast allen Fällen, der Mensch fast so unfähig seyn wird, an jenen Lehren, wie an seiner eigenen Existenz, zu zweifeln; weshalb dann unter vielen Tausenden kaum Einer die Festigkeit des Geistes besitzen wird, sich ernstlich und aufrichtig zu fragen: ist Das wahr? passender, als man glaubte, hat man daher Die, welche es dennoch vermögen, starke Geister, esprits forts, benannt. Für die Uebrigen nun aber giebt es nichts so Absurdes, oder Empörendes, daß nicht, wenn auf jenem Wege eingeimpft, der festeste Glaube daran in ihnen Wurzel schlüge. Wäre es z.B., daß die Tödtung eines Ketzers, oder Ungläubigen, ein wesentliches Stück zum dereinstigen Seelenheil sei; so würde fast Jeder Dies zur Hauptangelegenheit seines Lebens machen und im Sterben aus der Erinnerung des Gelingens Trost und Stärkung schöpfen; wie ja wirklich ehemals fast jeder Spanier ein auto de fe für das frömmste und gottgefälligste Werk hielt; wozu wir ein Gegenstück in Indien haben, an der erst vor Kurzem durch zahlreiche Hinrichtungen, von den Engländern, unterdrückten religiösen Genossenschaft der THUGS, deren Mitglieder ihre Religiosität und Verehrung der Göttin KALI dadurch bethätigten, daß sie, bei jeder Gelegenheit, ihre eigenen Freunde und Reisegefährten meuchlerisch ermordeten, um sich ihres Eigenthums zu bemächtigen, und ganz ernstlich in dem Wahne standen, etwas sehr Löbliches und ihrem ewigen Heil Förderliches damit zu leisten1. So stark demnach ist die Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen, daß sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag. Willst du aber was frühe Glaubenseinimpfung leistet, mit eigenen Augen und in der Nähe sehn; so betrachte die Engländer. Sieh' diese von der Natur vor allen andern begünstigte und mit Verstand, Geist, Urtheilskraft und Charakterfestigkeit mehr, als alle übrigen, ausgestattete Nation, sieh' sie, tief unter alle andern herabgesetzt, ja, geradezu verächtlich gemacht, durch ihren stupiden Kirchenaberglauben, welcher, zwischen ihren übrigen Fähigkeiten, ordentlich wie ein fixer Wahn, eine Monomanie, erscheint. Das haben sie bloß Dem zu danken, daß die Erziehung in den Händen der Geistlichkeit ist, welche Sorge trägt, ihnen sämmtliche Glaubensartikel in frühester Jugend so einzuprägen, daß es bis zu einer Art partieller Gehirnlähmung geht, die sich dann zeitlebens in jeder blödsinnigen Bigotterie äußert, durch welche sogar übrigens höchst verständige und geistreiche Leute unter ihnen sich degradiren und uns an ihnen ganz irre werden lassen. Wenn wir nun aber erwägen, wie wesentlich es zu dergleichen Meisterstücken ist, daß die Glaubensimpfung im zarten Kindesalter geschehe; so wird uns das Missionswesen nicht mehr bloß als der Gipfel menschlicher Zudringlichkeit, Arroganz und Impertinenz, sondern auch als absurd erscheinen, so weit nämlich, als es sich nicht auf Völker beschränkt, die noch im Zustande der KINDHEIT sind, wie etwan Hottentotten, Kaffern, Südseeinsulaner und dergleichen, wo es demgemäß auch wirklich Erfolg gehabt hat; während hingegen in Indien die Brahmanen die Vorträge der Missionarien mit herablassendem beifälligen Lächeln, oder mit Achselzucken erwidern und überhaupt unter diesem Volke, der bequemsten Gelegenheit ungeachtet, die Bekehrungsversuche der Missionarien durchgängig gescheitert sind. Ein authentischer Bericht, im 21.Bande des Asiatic Journal, von 1826 giebt an, daß, nach so vieljähriger Thätigkeit der Missionarien, in ganz Indien, (davon die Englischen Besitzungen allein 115 Millionen Einwohner haben) nicht mehr als 300 lebende Konvertiten zu finden sind, und zugleich wird eingestanden, daß die Christlichen Konvertiten sich durch die äußerste Immoralität auszeichnen. Es werden eben 300 feile, erkaufte Seelen gewesen seyn, aus so vielen Millionen. Daß es seitdem in Indien mit dem Christenthum besser gienge, ersehe ich nirgends;2 wiewohl die Missionäre jetzt suchen, in den ausschließlich dem weltlichen Englischen Unterricht gewidmeten Schulen, dennoch, gegen die Abrede, in ihrem Sinn auf die Kinder zu wirken, um das Christenthum einzuschwärzen, wogegen jedoch die Hindu mit größter Eifersucht auf ihrer Hut sind. Denn, wie gesagt, nur die Kindheit, nicht das Mannesalter, ist die Zeit, die Saat des Glaubens zu säen, zumal nicht, wo schon ein früherer wurzelt: die gewonnene UEBERZEUGUNG aber, welche erwachsene Konvertiten vorgeben, ist, in der Regel, nur die Maske irgend eines persönlichen Interesses. Eben weil man fühlt, daß Dies fast nicht anders seyn könne, wird überall ein Mensch, der im reifen Alter seine Religion wechselt, von den Meisten verachtet: gleichwohl legen eben diese dadurch an den Tag, daß sie die Religion nicht für Sache vernünftiger Ueberzeugung, sondern bloß des früh und vor aller Prüfung eingeimpften Glaubens halten. Daß sie aber hierin Recht haben geht auch daraus hervor, daß nicht bloß die blind glaubende Menge, sondern auch die Priesterschaft jeder Religion, welche, als solche, die Quellen und Gründe und Dogmen und Streitigkeiten derselben studirt hat, in allen ihren Mitgliedern, getreu und eifrig der Religion ihres jedesmaligen Vaterlandes anhängt; daher der Uebergang eines Geistlichen der einen Religion, oder Konfession, zu einer andern die seltenste Sache der Welt ist. So z.B. sehn wir die katholische Geistlichkeit von der Wahrheit aller Sätze ihrer Kirche vollkommen überzeugt, und eben so die protestantische von der der ihrigen, und Beide vertheidigen die Satzungen ihrer Konfession mit gleichem Eifer. Dennoch richtet diese Ueberzeugung sich bloß nach dem Lande, wo jeder geboren ist: dem süddeutschen Geistlichen nämlich leuchtet die Wahrheit des katholischen Dogma's vollkommen ein, dem norddeutschen aber die des protestantischen. Wenn nun also dergleichen Ueberzeugungen auf objektiven Gründen beruhen; so müssen diese Gründe klimatisch seyn und, wie die Pflanzen, die einen nur hier, die andern nur dort gedeihen. Das Volk nun aber nimmt überall auf Treu und Glauben die Ueberzeugungen dieser Lokal-Ueberzeugten an.

DEMOPHELES. Schadet nicht und macht im Wesentlichen keinen Unterschied: auch ist z.B. wirklich der Protestantismus dem Norden, der Katholicismus dem Süden angemessener.

PHILALETHES. Es scheint so. Ich aber habe einen höheren Gesichtspunkt gefaßt und behalte einen wichtigeren Gegenstand im Auge, nämlich die Fortschritte der Erkenntniß der Wahrheit im Menschengeschlecht. Für diese ist es eine erschreckliche Sache, daß Jedem, wo immer auch er geboren sei, schon in frühester Jugend gewisse Behauptungen eingeprägt werden, unter der Versicherung, daß er, bei Gefahr sein ewiges Heil zu verwirken, sie nie in Zweifel ziehn dürfe; sofern nämlich, als es Behauptungen sind, welche die Grundlage aller unserer übrigen Erkenntnisse betreffen, demzufolge für diese den Gesichtspunkt auf immer feststellen und, falls sie selbst falsch sind, ihn auf immer verrücken: da ferner ihre Folgesätze in das ganze System unserer Erkenntnisse überall eingreifen, wird dann durch sie das gesammte menschliche Wissen durch und durch verfälscht. Dies belegt jede Litteratur, am auffallendesten die des Mittelalters, aber nur zu sehr auch die des 16. und 17.Jahrhunderts. Sehn wir doch, in allen jenen Zeiten, selbst die Geister ersten Ranges wie gelähmt durch solche falsche Grundvorstellungen, bestonders aber alle Einsicht in das wahre Wesen und Wirken der Natur ihnen wie mit einem Brette vernagelt. Denn während des ganzen Christlichen Zeitraums liegt der Theismus wie ein drückender Alp auf allen geistigen, zumal philosophischen Bestrebungen und hemmt, oder verkümmert, jeden Fortschritt. Gott, Teufel, Engel und Dämonen verdecken den Gelehrten jener Zeiten die ganze Natur: keine Untersuchung wird zu Ende geführt, keiner Sache auf den Grund gegangen; sondern Alles, was über den augenfälligsten Kausalnexus hinausgeht, durch jene Persönlichkeiten alsbald zur Ruhe gebracht, indem es sogleich heißt, wie, bei einer solchen Gelegenheit, POMPONATIUS sich ausdrückt: certe philosophi nihil verisimile habent ad haec, quare necesse est, ad Deum, ad angelos et daemones recurrere (de incantat. c.7.). Diesen Mann freilich kann man dabei in den Verdacht der Ironie nehmen; da seine Tücke anderweitig bekannt ist: jedoch hat er damit nur die allgemeine Denkungsart seines Zeitalters ausgesprochen. Hatte hingegen wirklich Einer die seltene Elasticität des Geistes, welche allein die Fesseln zu sprengen vermag; so wurden seine Schriften, und wohl gar er mit, verbrannt; wie es dem Bruno und Vanini ergangen ist. - Wie völlig gelähmt aber die GEWÖHNLICHEN Köpfe durch jene frühzeitige, metaphysische Zurichtung werden, kann man am grellsten und von der lächerlichen Seite dann sehn, wann ein solcher eine fremde Glaubenslehre zu kritisiren unternimmt. Da findet man ihn in der Regel bloß bemüht, sorgfältig darzuthun, daß die Dogmen derselben zu denen seiner eigenen nicht stimmen, indem er mühsam auseinandersetzt, daß in jenen nicht nur nicht das Selbe gesagt, sondern auch ganz gewiß nicht das Selbe gemeint sei, wie in denen der seinigen. Damit glaubt er, in aller Einfalt, die Falschheit der fremden Glaubenslehre bewiesen zu haben. Es fällt ihm wirklich gar nicht ein, die Frage aufzuwerfen, welche von Beiden wohl Recht haben möge. Ein belustigendes Beispiel dieser Art hat der Reverend Mr. Morrison im 20.Bande des Asiatic Journal geliefert, woselbst er die Religion und Philosophie der Chinesen kritisirt, - daß es eine Freude ist.

DEMOPHELES. Das ist nun also dein höherer Gesichtspunkt. Aber ich versichere dich, daß es einen noch höheren giebt. Das primum vivere, deinde philosophari hat einen umfassenderen Sinn, als den, der sogleich ins Auge fällt. - Vor Allem kommt es darauf an, die rohen und schlechten Gemüther der Menge zu bändigen, um sie vom äußersten Unrecht, von Grausamkeiten, von Gewalt- und Schandthaten abzuhalten. Wenn man nun damit warten wollte, bis sie die Wahrheit erkannt und gefaßt hätten; so käme man unfehlbar zu spät. Denn, gesetzt auch, sie wäre bereits gefunden; so wird sie ihre Fassungskraft übersteigen. Für sie taugt jedenfalls bloß eine allegorische Einkleidung derselben, eine Parabel, ein Mythos. Es muß, wie Kant gesagt hat, eine öffentliche Standarte des Rechts und der Tugend geben, ja, diese muß allezeit hoch flattern. Es ist am Ende einerlei, welche heraldische Figuren darauf stehn; wenn sie nur bezeichnet was gemeint ist. Eine solche Allegorie der Wahrheit ist jederzeit und überall, für die Menschheit im Großen, ein taugliches Surrogat der ihr doch ewig unzugänglichen Wahrheit selbst und überhaupt der ihr nimmermehr faßlichen Philosophie; zu geschweigen, daß diese täglich ihre Gestalt wechselt und noch in keiner zur allgemeinen Anerkennung gelangt ist. Die praktischen Zwecke also, mein guter Philalethes, gehn, in jeder Beziehung, den theoretischen vor.

PHILALETHES. Fast argwöhne ich, du wolltest, nach heutiger Mode, mir zu Gemüthe führen

"Doch, guter Freund, die Zeit kommt auch heran,
Wo wir was Gut's in Ruhe schmausen mögen,"
und deine Empfehlung laufe darauf hinaus, daß wir bei Zeiten Sorge tragen sollen, damit alsdann die Wogen der unzufriedenen, tobenden Menge uns nicht bei Tafel stören mögen. Dieser ganze Gesichtspunkt aber ist so falsch, wie er heut zu Tage allgemein beliebt und belobt ist; daher ist mich beeile, Verwahrung dagegen einzulegen. Es ist FALSCH, daß Staat, Recht und Gesetz nicht ohne Beihülfe der Religion und ihrer Glaubensartikel aufrecht erhalten werden können, und daß Justiz und Polizei, um die gesetzliche Ordnung durchzusetzen, der Religion, als ihres nothwendigen Komplementes bedürfen. FALSCH ist es, und wenn es hundert Mal wiederholt wird. Denn eine faktische und schlagende instantia in contrarium liefern uns die Alten, zumal die Griechen. Das nämlich, was wir unter RELIGION verstehn, hatten sie durchaus nicht. Sie hatten keine heilige Urkunden und kein Dogma, das gelehrt, dessen Annahme von Jedem gefordert und das der Jugend frühzeitig eingeprägt worden wäre. - Eben so wenig wurde von den Dienern der Religion Moral gepredigt, oder kümmerten sich die Priester irgend um die Moralität, oder überhaupt um das Thun und Lassen der Leute. Ganz und gar nicht! Sondern die Pflicht der Priester erstreckte sich bloß auf Tempelceremonien, Gebete, Gesänge, Opfer, Processionen, Lustrationen u.dgl.m., welches Alles nichts weniger, als die moralische Besserung der Einzelnen zum Zweck hatte. Vielmehr bestand die ganze sogenannte Religion bloß darin, daß, vorzüglich in den Städten, einige der Deorum majorum gentium, hier dieser, dort jener, TEMPEL hatten, in denen ihnen der besagte Kultus, von Staats wegen, geleistet wurde, der also im Grunde Polizeisache war. Kein Mensch, außer den dabei thätigen Funktionarien, war irgend genöthigt, dabei gegenwärtig zu seyn, oder auch nur daran zu glauben. Im ganzen Alterthum ist keine Spur von einer Verpflichtung, irgend ein Dogma zu glauben. Bloß wer die Existenz der Götter öffentlich leugnete, oder sonst sie verunglimpfte, war strafbar: denn er beleidigte den Staat, der ihnen diente: außerdem aber blieb Jedem überlassen, was er davon halten wollte. Beliebte es Einem, sich pravitim, durch Gebete oder Opfer, die Gunst eben jener Götter zu erwerben; so stand ihm Dies, auf eigene Kosten und Gefahr, frei: that er es nicht; so hatte auch kein Mensch etwas dagegen: am wenigsten der Staat. Zu Hause hatte, bei den Römern, Jeder seine eigenen Laren und Penaten, die aber im Grunde bloß die verehrten Bilder seiner Ahnen waren. Von der Unsterblichkeit der Seele und einem Leben nach dem Tode, hatten die Alten gar keine feste, deutliche, am wenigsten dogmatisch fixirte Begriffe, sondern ganz lockere, schwankende, unbestimmte und problematische Vorstellungen, Jeder in seiner Weise: und eben so verschieden, individuell und vage waren auch die Vorstellungen von den Göttern. Also RELIGION, in unserm Sinne des Wortes, hatten die Alten wirklich nicht. Hat nun aber deswegen bei ihnen Anarchie und Gesetzlosigkeit geherrscht? ist nicht vielmehr Gesetz und bürgerliche Ordnung so sehr ihr Werk, daß es noch die Grundlage der unsrigen ausmacht? war nicht das Eigenthum, obwohl es sogar großen Theils aus Sklaven bestand, vollkommen gesichert? Und hat dieser Zustand nicht weit über ein Jahrtausend gedauert? -
Also kann ich die praktischen Zwecke und die Nothwendigkeit der Religion, in dem von dir angedeuteten und heut zu Tage allgemein beliebten Sinne, nämlich als einer unentbehrlichen Grundlage aller gesetzlichen Ordnung, nicht anerkennen, und muß mich dagegen verwahren. Denn von einem solchen Standpunkt aus würde das reine und heilige Streben nach Licht und Wahrheit wenigstens donquichotisch und, falls es wagen sollte, im Gefühl seines Rechts, den Auktoritätsglauben als den Usurpator, der den Thron der Wahrheit in Besitz genommen hat und ihn durch fortgesetzten Trug behauptet, zu denunziren, als verbrecherisch erscheinen.

DEMOPHELES. Zur Wahrheit steht die Religion aber nicht im Gegensatz: denn sie lehrt selbst die Wahrheit. Nur darf sie, weil ihr Wirkungskreis nicht ein enger Hörsal, sondern die Welt und die Menschheit im Großen ist, dem Bedürfnisse und der Fassungskraft eines so großen und gemischten Publikums gemäß, die Wahrheit nicht nackt auftreten lassen, oder, ein medicinisches Gleichniß zu gebrauchen, sie nicht unversetzt eingeben, sondern muß sich, als eines Menstruums, eines mythischen Vehikels bedienen. Auch kannst du sie, in dieser Hinsicht, gewissen chemischen, an sich selbst gasförmigen Stoffen vergleichen, welche man, zum offizinellen Gebrauch, wie auch zur Aufbewahrung, oder zur Versendung, an eine feste, palpable Basis binden muß, weil sie sonst sich verflüchtigen: z.B. das Chlor, welches, zu allen solchen Zwecken, nur in Gestalt der Chlorüren angewandt wird. Im Fall aber, daß die reine und abstrakte, von allem Mythischen freie Wahrheit, uns Allen, auch den Philosophen, auf immer unerreichbar bleiben sollte; dann wäre sie dem Fluor zu vergleichen, welches für sich allein gar nicht ein Mal darstellbar ist, sondern nur an andere Stoffe gebunden auftreten kann. Oder, - weniger gelehrt: die überhaupt nicht anders, als mythisch und allegorisch aussprechbare Wahrheit gliche dem Wasser, welches ohne Gefäß nicht transportabel ist; die Philosophen aber, welche darauf bestehn, sie unversetzt zu besitzen, glichen Dem, der das Gefäß zerschlüge, um das Wasser für sich allein zu haben. Vielleicht verhält es sich wirklich so. Jedenfalls aber ist Religion die allegorisch und mythisch ausgesprochene, und dadurch der Menschheit im Großen zugänglich und verdaulich gemachte Wahrheit: denn rein und unversetzt könnte sie solche nimmermehr vertragen; wie wir nicht im reinen Oxygen leben können, sondern eines Zusatzes von 4/5 Azot bedürfen. Und ohne Bild geredet: dem Volke kann der tiefe Sinn und das hohe Ziel des Lebens nur SYMBOLISCH eröffnet und vorgehalten werden; weil es nicht fähig ist, solche im eigentlichen Verstande zu fassen. Philosophie hingegen soll seyn wie die Eleusinischen Mysterien, für die Wenigen, die Auserwählten.

PHILALETHES. Verstehe schon: die Sache läuft hinaus auf die Wahrheit im Gewande der Lüge. Aber damit tritt sie in eine ihr verderbliche Allianz. Denn was für eine gefährliche Waffe wird nicht Denen in die Hände gegeben, welche die Befugniß erhalten, sich der Unwahrheit als Vehikels der Wahrheit zu bedienen! Wenn es so steht, fürchte ich, daß das Unwahre an der Sache mehr Schaden stiften wird, als das Wahre je Nutzen. Ja, wenn die Allegorie sich eingeständlich als eine solche geben dürfte, da gienge es schon an: allein das würde ihr allen Respekt und damit alle Wirksamkeit benehmen. Sie muß daher als sensu proprio wahr sich geltend machen und behaupten; während sie höchstens sensu allegorico wahr ist. Hier liegt der unheilbare Schaden, der bleibende Uebelstand, welcher Ursache ist, daß die Religion mit dem unbefangenen, edlen Streben nach reiner Wahrheit stets in Konflikt gerathen ist und es immer von Neuem wird.

DEMOPHELES. Doch nicht: denn auch dafür ist gesorgt. Darf gleich die Religion ihre allegorische Natur nicht geradezu bekennen; so deutet sie solche doch genugsam an.

PHILALETHES. Und wo denn Das?

DEMOPHELES. In ihren Mysterien. Sogar ist "Mysterium" im Grunde nur der theologische terminus technicus für religiöse Allegorie. Auch haben alle Religionen ihre Mysterien. Eigentlich ist ein Mysterium ein offenbar absurdes Dogma, welches jedoch eine hohe, an sich selbst dem gemeinen Verstande der rohen Menge völlig unfaßliche Wahrheit in sich verbirgt, die nun derselbe in dieser Verhüllung aufnimmt, auf Treu und Glauben, ohne sich von der, auch ihm augenfälligen Absurdität irre machen zu lassen: dadurch nun wird er des Kerns der Sache, so weit es ihm möglich ist, theilhaft. Zur Erläuterung kann ich hinzusetzen, daß sogar in der Philosophie der Gebrauch der Mysteriums versucht worden ist, z.B. wenn PASKAL, welcher Pietist, Mathematiker und Philosoph zugleich war, in dieser dreifachen Eigenschaft sagt: Gott ist Centrum überall und nirgends Peripherie. Auch MALEBRANCHE hat ganz richtig bemerkt: la liberté est un mystère. - Man könnte weiter gehn und behaupten, an den Religionen sei eigentlich Alles Mysterium. Denn die Wahrheit sensu proprio dem Volke, in seiner Rohheit, beizubringen ist schlechterdings unmöglich: nur ein mythisch-allegorischer Abglanz derselben kann ihm zufallen und es erleuchten. Die nackte Wahrheit gehört nicht vor die Augen des profanen Vulgus: nur dicht verschleiert darf sie vor ihm erscheinen. Dieserwegen nun ist es eine ganz unbillige Zumuthung an eine Religion, daß sie sensu proprio wahr seyn solle, und daher, beiläufig gesagt, sind, in unsern Tagen, sowohl Rationalisten, als Supranaturalisten absurd, indem Beide von der Voraussetzung, daß sie es seyn müsse, ausgehn, unter welcher dann Jene beweisen, daß sie es nicht sei, und Diese hartnäckig behaupten, sie sei es; oder vielmehr Jene das Allegorische so zuschneiden und zurechtlegen, daß es sensu proprio wahr seyn könnte, dann aber eine Plattitüde wäre; Diese aber es, ohne weitere Zurichtung, als sensu proprio wahr behaupten wollen, - welches doch ohne Ketzergerichte und Scheiterhaufen gar nicht durchzusetzen ist; wie sie wissen sollten. Wirklich hingegen ist Mythos und Allegorie das eigentliche Element der Religion: aber unter dieser, wegen der geistigen Beschränktheit des großen Haufens, unumgänglichen Bedingung, leistet sie dem so unvertilgbaren, metaphysischen Bedürfniß des Menschen sehr wohl Genüge und vertritt die Stelle der, unendlich schwer und vielleicht nie zu erreichenden, reinen philosophischen Wahrheit.

PHILALETHES. O ja, ungefähr so, wie ein hölzernes Bein die Stelle des natürlichen vertritt: es füllt sie aus, thut auch nothdürftig dessen Dienste, prätendirt dabei für ein natürliches angesehn zu werden, ist bald mehr, bald weniger künstlich zusammengesetzt u.s.f. Ein Unterschied dagegen ist, daß, in der Regel, ein natürliches Bein früher dawar, als das hölzerne, die Religion hingegen überall der Philosophie den Vorsprung abgewonnen hat.

DEMOPHELES. Mag Alles seyn: aber für Den, der kein natürliches Bein hat, ist ein hölzernes von großem Werth. Du mußt im Auge behalten, daß das metaphysische Bedürfniß des Menschen schlechterdings Befriedigung verlangt; weil der Horizont seiner Gedanken abgeschlossen werden muß, nicht unbegränzt bleiben darf. Urtheilskraft nun aber, Gründe abzuwiegen und dann zwischen Wahrem und Falschem zu entscheiden, hat der Mensch, in der Regel, nicht: zudem läßt die von der Natur und ihrer Noth ihm aufgelegte Arbeit ihm keine Zeit zu derartigen Untersuchungen, noch zu der Bildung, die sie voraussetzen. Also kann bei ihm nicht die Rede seyn von Ueberzeugung aus Gründen; sondern auf Glauben und Auktorität ist er verwiesen. Selbst wenn eine wirklich wahre Philosophie die Stelle der Religion eingenommen hätte; so würde sie von allerwenigstens 9/10 der Menschen doch nur auf Auktorität angenommen werden, also wieder Glaubenssache seyn: denn bei Plato's philosophon plehthos adynaton einai wird es immer bleiben. Auktorität nun aber wird allein durch Zeit und Umstände begründet; daher wir sie nicht Dem verleihen können, was nichts, als Gründe, für sich hat: sonach müssen wir sie Dem lassen, was, durch Weltlauf, sie ein Mal erlangt hat, wenn es auch nur die allegorisch dargestellte Wahrheit ist. Diese nun, auf Auktorität gestützt, wendet sich zunächst an die eigentlich metaphysische Anlage des Menschen, also an das theoretische Bedürfniß, welches aus dem sich aufdringenden Räthsel unsers Daseyns und aus dem Bewußtsein hervorgeht, daß hinter dem Physischen der Welt irgendwie ein Metaphysisches stecken müsse, ein Unwandelbares, welches dem beständigen Wandel zur Grundlage dient; sodann aber an den Willen, an Furcht und Hoffnung der in steter Noth lebenden Sterblichen: sie schafft ihnen demnach Götter und Dämonen, die sie anrufen, die sie besänftigen, die sie gewinnen können; endlich aber auch wendet sie sich an ihr unleugbar vorhandenes moralisches Bewußtsein, dem sie Bestätigung und Anhalt von außen verleiht, eine Stütze, ohne welche dasselbe, im Kampfe mit so vielen Versuchungen, sich nicht leicht würde aufrecht erhalten können. Eben von dieser Seite gewährt die Religion, in den zahllosen und großen Leiden des Lebens, eine unerschöpfliche Quelle des Trostes und der Beruhigung, welche den Menschen auch im Tode nicht verläßt, vielmehr gerade dann ihre ganze Wirksamkeit entfaltet.

PHILALETHES. Diese letztere Seite ist allerdings der Glanzpunkt der Religion. Ist sie eine fraus; so ist sie wahrlich eine pia fraus: das ist nicht zu leugnen. Sonach aber werden uns die Priester zu einem sonderbaren Mittelding von Betrügern und Sittenlehrern. Denn die eigentliche Wahrheit dürfen sie, wie du selbst ganz richtig auseinandergesetzt hast, nicht lehren, auch wenn sie ihnen bekannt wäre; wie sie es nicht ist. Eine wahre Philosophie kann es danach allenfalls geben; aber gar keine wahre Religion; ich meyne wahr im wahren und eigentlichen Wortverstande und nicht bloß so durch die Blume, oder Allegorie, wie du es geschildert hast, in welchem Sinne vielmehr jede wahr seyn wird, nur in verschiedenen Graden. Allerdings aber ist es dem unentwirrbaren Gemische von Wohl und Uebel, Redlichkeit und Falschheit, Güte und Bosheit, Edelmuth und Niederträchtigkeit, welches die Welt uns durchgängig darbietet, ganz entsprechend, daß die wichtigste, höchste und heiligste Wahrheit nicht anders, als mit der Lüge versetzt, auftreten kann, ja, von dieser, als welche stärker auf die Menschen wirkt, Kraftborgen und von ihr eingeführt werden muß, als Offenbarung. Man könnte sogar dies Faktum als Monogramm der moralischen Welt betrachten. Indessen wollen wir die Hoffnung nicht aufgeben, daß die Menschheit dereinst auf den Punkt der Reife und Bildung gelangen wird, wo sie die wahre Philosophie einerseits hervorzubringen und andrerseits aufzunehmen vermag. Diese wird dann freilich die Religion von dem Platze herunterstoßen, den sie so lange vikarirend eingenommen, aber eben dadurch jener offen gehalten hatte. Dann nämlich wird die Religion ihren Beruf erfüllt und ihre Bahn durchlaufen haben: sie kann dann das bis zur Mündigkeit geleitete Geschlecht entlassen, selbst aber in Frieden dahinscheiden. Dies wird die Euthanasie der Religion seyn. Aber so lange sie lebt hat sie zwei Gesichter: eines der Wahrheit und eines des Truges. Je nachdem man das eine, oder das andere ins Auge faßt, wird man sie lieben, oder anfeinden. Daher muß man sie als ein nothwendiges Uebel betrachten, dessen Nothwendigkeit auf der erbärmlichen Geistesschwäche der großen Mehrzahl der Menschen beruht, welche die Wahrheit zu fassen unfähig ist und daher, in einem dringenden Fall, eines Surrogats derselben bedarf.

DEMOPHELES. Wahrhaftig, man sollte denken, daß ihr Philosophen die Wahrheit schon ganz fertig liegen hättet und es nur noch darauf ankäme, sie zu fassen.

PHILALETHES. Wenn wir sie nicht haben, so ist Dies hauptsächlich dem Drucke zuzuschreiben, unter welchem, zu allen Zeiten und in allen Ländern, die Philosophie von der Religion gehalten worden ist. Nicht nur das Aussprechen und die Mittheilung der Wahrheit, nein, selbst das Denken und Auffinden derselben hat man unmöglich zu machen gesucht, dadurch, daß man in frühester Kindheit die Köpfe den Priestern, zum Bearbeiten, in die Hände gab, die nun das Gleis, in welchem die Grundgedanken sich fortan zu bewegen hatten, so fest hineindrückten, daß solche, in der Hauptsache, für die ganze Lebenszeit festgestellt und bestimmt waren. Erschrecken muß ich bisweilen, wenn ich, zumal von meinen orientalischen Studien kommend, die Schriften, selbst der vortrefflichsten Köpfe, des 16. und 17.Jahrhunderts in die Hand nehme und nun sehe, wie sie überall durch den jüdischen Grundgedanken paralysirt und von allen Seiten eingehemmt sind. So zugerichtet ersinne mir Einer die wahre Philosophie!

DEMOPHELES. Und wäre sie übrigens gefunden, diese wahre Philosophie; so würde darum doch nicht, wie du meinst, die Religion aus der Welt kommen. Denn es kann nicht Eine Metaphysik für Alle geben: der natürliche Unterschied der Geisteskräfte und der hinzukommende ihrer Ausbildung läßt es nimmermehr zu. Die große Mehrzahl der Menschen muß nothwendig der schweren körperlichen Arbeit obliegen, die zur Herbeischaffung des endlosen Bedarfs des ganzen Geschlechts unerläßlich erfordert ist: nicht nur läßt ihr Dies keine Zeit zur Bildung, zum Lernen, zum Nachdenken; sondern, vermöge des entschiedenen Antagonismus zwischen Irritabilität und Sensibilität, stumpft die viele und angestrengte körperliche Arbeit den Geist ab, macht ihn schwer, plump, ungelenk und daher unfähig andere, als ganz einfache und palpable Verhältnisse zu fassen. Unter diese Kategorie nun aber fallen wenigstens 9/10 des Menschengeschlechts. Einer Metaphysik aber, d.i. einer Rechenschaft über die Welt und unser Daseyn, bedürfen die Leute darum doch; weil solche zu den natürlichsten Bedürfnissen des Menschen gehört; und zwar einer Volksmetaphysik, welche, um Dies seyn zu können, gar viele und seltene Eigenschaften vereinigen muß: nämliche eine große Faßlichkeit mit einer gewissen Dunkelheit, ja, Undurchdringlichkeit, an den rechten Stellen; sodann muß mit ihren Dogmen eine richtige und ausreichende Moral verknüpft sein: vor Allem aber muß sie unerschöpflichen Trost im Leiden und im Tode mit sich bringen. Hieraus folgt nun schon, daß sie nur sensu allegorico, nicht sensu proprio wahr seyn kann. Ferner muß sie nun noch die Stütze einer, durch hohes Alter, allgemeine Anerkennung, Urkunden, nebst Ton und Vortrag derselben, imponirenden Auktorität haben, lauter Eigenschaften, die so unendlich schwer zu vereinigen sind, daß gar Mancher, wenn er es erwöge, nicht so bereitwillig mithelfen würde, eine Religion zu unterminiren, sondern bedenken, daß sie der heiligste Schatz des Volkes ist. Der höher Gebildete mag immerhin sich die Religion cum grano salis auslegen; der Gelehrte, der denkende Kopf, mag sie, in der Stille, gegen eine Philosophie vertauschen. Und paßt doch sogar hier nicht EINE Philosophie für Alle, sondern eine jede zieht, nach Gesetzen der Wahlverwandtschaft, dasjenige Publikum an sich, dessen Bildung und Geisteskräften sie angemessen ist. Daher giebt es allezeit eine niedrige Schulmetaphysik, für den gelehrten Plebs, und eine höhere, für die Elite. Mußte z.B. doch auch Kants hohe Lehre erst für die Schulen herabgezogen und verdorben werden, durch Fries, Krug, Salat und ähnliche Leute. Kurz, hier gilt so sehr, als irgendwo, Göthe's "Eines paßt sich nicht für Alle." Reiner Offenbarungsglaube und reine Metaphysik sind für die beiden Extreme: für die Zwischenstufen sind eben auch Modifikationen jener Beiden wechselseitig durch einander, in zahllosen Kombinationen und Gradationen. So erfordert er der unermeßliche Unterschied, den Natur und Bildung zwischen Menschen setzen.

PHILALETHES. Dieser Gesichtspunkt erinnert mich ernstlich an die, von dir schon erwähnten Mysterien der Alten, als welchen die Absicht zum Grunde zu liegen scheint, jenem, aus der Verschiedenheit der geistigen Anlagen und der Bildung entspringenden Uebelstande abzuhelfen. Ihr Plan dabei war, aus dem großen Haufen der Menschen, welchem die unverschleierte Wahrheit durchaus unzugänglich ist, Einige auszusondern, denen man solche, bis auf einen gewissen Grad, enthüllen durfte; aus diesen aber wieder Einige, denen man noch mehr offenbarte, da sie mehr zu fassen vermochten; und so aufwärts bis zu den Epopten. So gab es denn mikra, kai meizona, kai megista mystehria. Eine richtige Erkenntniß der intellektuellen Ungleichheit der Menschen lag der Sache zum Grunde.

DEMOPHELES. Gewissermaaßen vertritt bei uns die Bildung auf niedern, mittleren und hohen Schulen die verschiedenen Weihen der Mysterien.

PHILALETHES. Doch nur sehr annäherungsweise, und auch Dies nur, so lange über Gegenstände des höheren Wissens ausschließlich latein geschrieben wurde. Aber seitdem Das aufgehört hat, werden alle Mysterien profanirt.

DEMOPHELES. Wie Dem auch seyn möge, so wollte ich, hinsichtlich der Religion, noch erinnern, daß du sie weniger von der theoretischen, und mehr von der praktischen Seite auffassen solltest. Mag immerhin die personificirte Metaphysik ihre Feindin, so wird doch die personificirte Moral ihre Freundin seyn. Vielleicht ist in allen Religionen das Metaphysische falsch; aber das Moralische ist in allen wahr: Dies ist schon daraus zu vermuthen, daß in jenem sie einander sämmtlich widerstreiten, in diesem aber alle übereinstimmen, -

PHILALETHES. Welches einen Beleg abgiebt zu der logischen Regel, daß aus falschen Prämissen eine wahre Konklusion folgen kann.

DEMOPHELES. Nun so halte dich an die Konklusion und sei stets eingedenk, daß die Religion zwei Seiten hat. Sollte sie auch, bloß von der theoretischen, also intellektualen Seite gesehn, nicht zu Rechte bestehn können; so zeigt sie dagegen von der moralischen Seite sich als das alleinige Lenkungs-, Bändigungs- und Besänftigungsmittel dieser Rasse vernunftbegabter Thiere, deren Verwandtschaft mit dem Affen die mit dem Tiger nicht ausschließt. Zugleich ist sie die, in der Regel, ausreichende Befriedigung des dumpfen metaphysischen Bedürfnisses derselben. Wenn du sie so auffassest, und bedenkst, daß ihre Zwecke überwiegend praktisch und nur untergeordnet theoretisch sind; so wird sie dir höchst achtungswerth erscheinen.

PHILALETHES. Welcher Respekt denn doch am Ende auf dem Grundsatz beruhen würde, daß der Zweck die Mittel heiligt. Ich fühle jedoch zu einem darauf errichteten Kompromiß keine Neigung. Mag immerhin die Religion ein excellentes Zähmungs- und Abrichtungsmittel des verkehrten, stumpfen und boshaften bipedischen Geschlechts seyn; in den Augen des Freundes der Wahrheit bleibt jede fraus, sei sie auch noch so pia, verwerflich. Lug und Trug wären doch ein seltsames Tugendmittel. Die Fahne, zu der ich geschworen habe, ist die Wahrheit: ihr werde ich überall treu bleiben und, unbekümmert um den Erfolg, kämpfen für Licht und Wahrheit. Erblicke ich die Religionen in der feindlichen Reihe; so werde ich ----

DEMOPHELES. Da findest du sie aber nicht! Die Religion ist kein Betrug: sie ist wahr, und ist die wichtigste aller Wahrheiten. Weil aber, wie schon gesagt, ihre Lehren so hoher Art sind, daß der große Haufen sie nicht unmittelbar fassen könnte; weil, sage ich, das Licht derselben das gemeine Auge blenden würde; so tritt sie in den Schleier der Allegorie gehüllt auf und lehrt Das, was nicht geradezu an sich selbst, wohl aber dem hohen, darin enthaltenen Sinne nach, wahr ist: und so verstanden, ist sie die Wahrheit.

PHILALETHES. Das ließe sich schon hören, - wenn sie nur sich als bloß allegorisch wahr geben dürfte. Allein sie tritt auf mit dem Anspruch, geradezu und im ganz eigentlichen Sinne des Wortes wahr zu seyn: darin liegt der Trug, und hier ist es, wo der Freund der Wahrheit sich ihr feindlich entgegenstellen muß.

DEMOPHELES. Aber Das ist ja conditio sine qua non. Wollte sie eingestehn, daß bloß der allegorische Sinn ihrer Lehren das Wahre daran sei; so würde ihr dies alle Wirksamkeit benehmen, und ihr unschätzbar wohlthätiger Einfluß auf das Moralische und Gemüthliche im Menschen würde durch solchen Rigorismus verloren gehn. Statt also mit pedantischem Starrsinn darauf zu bestehn, richte den Blick auf ihre großen Leistungen im praktischen Gebiet, im Moralischen, im Gemüthlichen, als Lenkerin des Handelns, als Stütze und Trost der leidenden Menschheit, im Leben und im Tode. Wie sehr wirst du danach Dich hüten, durch theoretische Kritteleien dem Volke etwas zu verdächtigen und dadurch endlich zu entreißen, was ihm eine unerschöpfliche Quelle des Trostes und der Beruhigung ist, deren es so sehr, ja, bei seinem härteren Loose, mehr als wir bedarf: denn schon darum sollte es schlechthin unantastbar seyn.

PHILALETHES. Mit dem Argument hätte man den LUTHER aus dem Felde schlagen können, als er die Ablaßkrämerei angriff: denn wie Manchem haben nicht Ablaßzettel zum unersetzlichen Trost und vollkommener Beruhigung gereicht, so daß er, im vollen Vertrauen auf ein Päckchen derselben, welches er sterbend in der Hand festhielt, überzeugt, eben so viele Eintrittskarten in alle neun Himmel daran zu haben, mit froher Zuversicht dahinschied. - Was helfen Trost- und Beruhigungsgründe, über welchen beständig das Damoklesschwerdt der Enttäuschung schwebt! Die Wahrheit, mein Freund, die Wahrheit allein hält Stich, beharrt und bleibt treu: ihr Trost allein ist der solide: sie ist der unzerstörbare Diamant.

DEMOPHELES. Ja, wenn ihr die Wahrheit in der Tasche hättet, um uns auf Verlangen damit zu beglücken. Aber was ihr habt sind eben nur metaphysische Systeme, an denen nichts gewiß ist, als das Kopfbrechen, welches sie kosten. Ehe man Einem etwas nimmt, muß man etwas Besseres an dessen Stelle zu geben haben.

PHILALETHES. Wenn ich nur Das nicht immer hören müßte! Einen von einem Irrthum befreien heißt nicht ihm etwas nehmen, sondern geben: denn die Erkenntniß, das etwas falsch sei, ist eben eine Wahrheit. Kein Irrthum aber ist unschädlich; sondern jeder wird früher oder später Dem, der ihn hegt, Unheil bereiten. Darum betrüge man niemanden, gestehe lieber ein, nicht zu wissen was man nicht weiß, und überlasse Jedem, sich seine Glaubenssätze selbst zu machen. Vielleicht werden sie so übel nicht ausfallen, zumal da sie sich an einander abreiben und gegenseitig rektificiren werden: jedenfalls wird die Mannigfaltigkeit der Ansichten Toleranz begründen. Die aber, denen Kenntnisse und Fähigkeit beiwohnen, mögen sich an das Studium der Philosophen machen, oder wohl gar selbst die Geschichte der Philosophie weiter führen.

DEMOPHELES. Das würde etwas Schönes werden! Ein ganzes Volk naturalisirender, sich streitender und eventualiter prügelnder Metaphysiker!

PHILALETHES. Je nun, etwas Prügel, hin und wieder, sind die Würze des Lebens, oder wenigstens ein gar kleines Uebel, wenn verglichen mit Pfaffenherrschaft, Laienplünderung, Ketzerverfolgungen, Inquisitionsgerichten, Kreuzzügen, Religionskriegen, Bartholomäusnächten u.s.w. Das sind denn doch die Erfolge der oktroyirten Volksmetaphysik gewesen: daher bleibe ich dabei, daß vom Dornbusch keine Trauben und von Lug und Trug kein Heil zu erwarten steht.

DEMOPHELES. Wie oft soll ich dir wiederholen, daß die Religion nichts weniger, als Lug und Trug, sondern die Wahrheit selbst, nur in mythisch-allegorischem Gewande ist? - Aber hinsichtlich deines Plans, daß Jeder sein eigener Religionsstifter seyn solle, hatte ich dir noch zu sagen, daß ein solcher Partikularismus ganz und gar der Natur des Menschen widerstreitet und eben daher alle gesellschaftliche Ordnung aufheben würde. Der Mensch ist ein animal metaphysicum, d.h. hat ein überwiegend starkes metaphysisches Bedürfniß: demnach faßt er das Leben vor Allem in seiner metaphysischen Bedeutung und will aus dieser Alles abgeleitet wissen. Daher ist, so seltsam es, bei der Ungewißheit aller Dogmen, klingt, die Uebereinstimmung in den metaphysischen Grundansichten für ihn die Hauptsache, dermaaßen, daß nur unter den hierin Gleichgesinnten ächte und dauernde Gemeinschaft möglich ist. In Folge hievon identificiren und scheiden die Völker sich viel mehr nach den Religionen, als nach den Regierungen, oder selbst nach den Sprachen. Demgemäß steht das Gebäude der Gesellschaft, der Staat, erst dann vollkommen fest, wann ein allgemein anerkanntes System der Metaphysik ihm zur Unterlage dient. Natürlich kann ein solches nur Volksmetaphysik, d.i. Religion, seyn. Dasselbe schmilzt aber dann mit der Staatsverfassung und allen gemeinschaftlichen Lebensäußerungen des Volkes, wie auch mit allen feierlichen Akten des Privatlebens, zusammen. So war es im alten Indien, so bei den Persern, den Aegyptern, den Juden, auch bei den Griechen und Römern, so ist es noch bei den Brahmanischen, Buddhaistischen und Mohammedanischen Völkern. In China sind zwar drei Glaubenslehren, von welchen gerade die am meisten verbreitete, der Buddhaismus, am wenigsten vom Staate gepflegt wird: jedoch lautet ein in China allgemein geltender und täglich gebrauchter Spruch so: "die drei Lehren sind nur Eine", d.h. sie stimmen in der Hauptsache überein. Europa endlich ist der CHRISTLICHE Staatenbund: das Christenthum ist die Basis jeder seiner Glieder und das gemeinschaftliche Band aller; daher auch die Türkei, obgleich in Europa gelegen, eigentlich nicht dazu gerechnet wird. Dem entsprechend sind die Europäischen Fürsten es "von Gottes Gnaden" und ist der Papst der Statthalter Gottes, welcher demgemäß, als sein Ansehn am höchsten stand, alle Throne nur als von ihm verliehene Lehen betrachtet haben wollte: Dem entsprach auch, daß Erzbischöfe und Bischöfe als solche weltliche Herrschaft hatten, wie noch jetzt, in England, Sitz und Stimme im Oberhause. Protestantische Herrscher sind, als solche, Häupter ihrer Kirche: in England war dies, noch vor wenig Jahren, ein achtzehnjähriges Mädchen. Schon durch den Abfall vom Papste hat die Reformation das Europäische Staatengebäude erschüttert, besonders aber hat sie, durch Aufhebung der Glaubensgemeinschaft, die wahre Einheit Deutschlands aufgelöst, welche daher später, nachdem sie faktisch auseinandergefallen war, durch künstliche, bloß politische Bande wiederhergestellt werden mußte. Du siehst also, wie wesentlich der Glaube und seine Einheit mit der gesellschaftlichen Ordnung und jedem Staate zusammenhängt. Er ist überall die Stütze der Gesetze und der Verfassung, also die Grundlage des geselligen Gebäudes, das sogar schwerlich bestehn könnte, wenn nicht er der Auktorität der Regierung und dem Ansehn des Herrschers Nachdruck verliehe.

PHILALETHES. O ja, den Fürsten ist der Herrgott der Knecht Ruprecht, mit dem sie die großen Kinder zu Bette jagen, wenn nichts Anderes mehr helfen will; daher sie auch viel auf ihn halten. Inzwischen hat, seitdem die ultima ratio theologorum, der Scheiterhaufen, außer Gebrauch gekommen, dieses Mittel sehr an Wirksamkeit verloren. Denn, du weißt es, die Religionen sind wie die Leuchtwürmer: sie bedürfen der Dunkelheit um zu leuchten. Ein gewisser Grad allgemeiner Unwissenheit ist die Bedingung aller Religionen, ist das Element, in welchem allein sie leben können. Sobald hingegen Astronomie, Naturwissenschaft, Geologie, Geschichte, Länder- und Völkerkunde ihr Licht allgemein verbreiten und endlich gar die Philosophie zum Worte kommen darf; da muß jeder auf Wunder und Offenbarung gestützte Glaube untergehn; worauf dann die Philosophie seinen Platz einnimmt. In Europa brach, gegen das Ende des 15ten Jahrhunderts, mit der Ankunft gelehrter Neugriechen, jener Tag der Erkenntniß und Wissenschaft an, seine Sonne stieg immer höher, in dem so ergiebigen 16ten und 17ten Jahrhundert, und zerstreute die Nebel des Mittelalters. In gleichem Maaße mußte allmälig die Kirche und der Glaube sinken; daher im 18ten Jahrhundert Englische und Französische Philosophen sich schon direkt gegen dieselben erheben konnten, bis endlich, unter Friedrich dem Großen, KANT kam, der dem religiösen Glauben die bisherige Stütze der Philosophie entzog und die ancilla theologiae emancipirte, indem er die Sache mit deutscher Gründlichkeit und Gelassenheit angriff, wodurch sie eine weniger frivole, aber desto ernsthaftere Miene annahm. In Folge davon sehn wir im 19ten Jahrhundert das Christenthum sehr geschwächt dastehn, vom ernstlichen Glauben fast ganz verlassen, ja, schon um seine eigene Existenz kämpfend; während besorgliche Fürsten ihm durch künstlige Reizmittel aufzuhelfen suchen, wie der Arzt dem Sterbenden durch Moschus. Allein höre hier aus dem Condorcet, des progrès de l'esprit humain, eine Stelle, die zur Warnung unserer Zeit geschrieben zu seyn scheint: le zèle religieux des philosophes et des grands n'était qu'une dévotion politique: et toute religion, qu'on se permet de défendre comme une croyance qu'il est utile de laisser au peuple, ne peut plus espérer qu'une agonie plus ou moins prolongée (ep.5.) - Im ganzen Verlaufe des beschriebenen Hergangs kannst du immer beobachten, daß Glauben und Wissen sich verhalten wie die zwei Schalen einer Waage: in dem Maaße, als die eine steigt, sinkt die andere. Ja, so empfindlich ist diese Waage, daß sie sogar momentane Einflüsse indicirt: als z.B., im Anfange dieses Jahrhunderts, die Raubzüge Französischer Horden, unter ihrem Anführer Buonaparte, und die große Anstrengung, welche nachher die Austreibung und Züchtigung dieses Raubgesindels erforderte, eine temporäre Vernachlässigung der Wissenschaften und dadurch eine gewisse Abnahme in der allgemeinen Verbreitung der Kenntnisse herbeigeführt hatte, fieng sogleich die Kirche wieder an, ihr Haupt zu erheben, und der Glaube zeigte sofort eine neue Belebung, die freilich, dem Zeitalter gemäß, zum Theil nur poetischer Natur war. Hingegen hat Muße und Wohlstand den Anbau der Wissenschaften und die Verbreitung der Kenntnisse in seltenem Maaße befördert; wovon die Folge der besagte, Auflösung drohende Verfall der Religion ist. Vielleicht daß sogar der so oft prophezeite Zeitpunkt bald daseyn wird, wo diese von der Europäischen Menschheit scheidet, wie eine Amme, deren Pflege das Kind entwachsen ist, welches nunmehr der Belehrung des Hofmeisters zufällt. Denn ohne Zweifel sind bloße, auf Auktorität, Wunder und Offenbarung gestützte Glaubenslehren eine nur dem Kindesalter der Menschheit angemessene Aushülfe: daß aber ein Geschlecht, dessen ganze Dauer, nach übereinstimmender Anzeige aller physischen und historischen Data, bis jetzt nicht mehr beträgt, als ungefähr 100 Mal das Leben eines 60jährigen Mannes, noch in der ersten Kindheit sich befinde, wird Jeder zugeben.

DEMOPHELES. O, wenn du doch, statt mit unverhohlenem Wohlgefallen den Untergang des Christenthums zu prophezeien, betrachten wolltest, wie unendlich viel die Europäische Menschheit dieser ihr, aus ihrer wahren alten Heimath, dem Orient, spät nachgefolgten Religion zu verdanken hat! Sie erhielt durch dieselbe eine ihr bis dahin fremde Tendenz, vermöge der Erkenntniß der Grundwahrheit, daß das Leben nicht Selbstzweck seyn könne, sondern der wahre Zweck unsers Daseyns jenseit desselben liege. Griechen und Römer nämlich hatten ihn durchaus IN das Leben selbst gesetzt, daher sie, in diesem Sinne, allerdings blinde Heiden heißen können. Demgemäß laufen auch alle ihre Tugenden auf das dem Gemeinwohl Dienliche, - das Nützliche, zurück, und Aristoteles sagt ganz naiv: "nothwendigerweise müssen DIE Tugenden die größten seyn, welche Andern die nützlichsten sind." (anagkeh de megistas einai aretas tas tois allois chrehsimohtatas. Rhetor. 1, c. 9.) Daher ist denn auch die Vaterlandsliebe die höchste Tugend bei den Alten, - wiewohl sie eigentlich eine gar zweideutige ist, indem Beschränktheit, Vorurtheil, Eitelkeit und wohlverstandener Eigennutz großen Antheil an ihr haben. Dicht vor der soeben angeführten Stelle zählt Aristoteles sämmtliche Tugenden auf, um sie sodann einzeln zu erläutern. Sie sind: Gerechtigkeit, Muth, Mäßigkeit, Splendidität (megaloprepeia), Großmuth, Liberalität, Sanftmuth, Vernünftigkeit und Weisheit. Wie verschieden von den christlichen! Selbst Plato, der ohne Vergleich transscendenteste Philosoph des vorchristlichen Alterthums, kennt keine höhere Tugend als die Gerechtigkeit, welche sogar nur er allein unbedingt und ihrer selbst wegen empfiehlt; während bei allen ihren übrigen Philosophen das Ziel aller Tugend ein glückliches Leben, vita beata, ist und die Moral die Anleitung zu einem solchen. Von diesem platten und rohen Aufgehn in einem ephemeren, ungewissen und schaalen Daseyn befreite das Christenthum die Europäische Menschheit,

coelumque tueri
Jussit, et erectos ad sidera tollere vultus.
Demgemäß predigte das Christenthum nicht bloße Gerechtigkeit, sondern Menschenliebe, Mitleid, Wohlthätigkeit, Versöhnlichkeit, Feindesliebe, Geduld, Demuth, Entsagung, Glaube und Hoffnung. Ja, es gieng weiter: es lehrte, daß die Welt vom Uebel sei, und daß wir der Erlösung bedürften: demnach predigte es Weltverachtung, Selbstverleugnung, Keuschheit, Aufgeben des eigenen Willens, d.h. Abwendung vom Leben und dessen trügerischen Genüssen: ja, es lehrte die heiligende Kraft des Leidens erkennen und ein Marterinstrument ist das Symbol des Christenthums. - Ich gestehe dir gern zu, daß diese ernste und allein richtige Ansicht des Lebens, unter andern Formen, in ganz Asien schon Jahrtausende früher verbreitet war, wie sie es, unabhängig vom Christenthum, auch noch jetzt ist: aber für die Europäische Menschheit war dieselbe eine neue und große Offenbarung. Denn bekanntlich besteht die Bevölkerung Europa's aus verdrängten und verirrten, nach und nach eingetroffenen Asiatischen Stämmen, welchen, auf der weiten Wanderung, ihre heimathliche Urreligion und damit die richtige Lebensansicht verloren gegangen war; daher sie alsdann, im neuen Klima, sich eigene und ziemlich rohe Religionen bildeten, hauptsächlich die Druidische, die Odinische und die Griechische, deren metaphysischer Gehalt gering und gar seicht war. - Inzwischen entwickelte sich bei den Griechen ein ganz specieller, man möchte sagen instinktartiger, ihnen allein, unter allen Völkern der Erde, die je gewesen sind, eigener, feiner und richtiger Schönheitssinn: daher nahm, im Munde ihrer Dichter und unter den Händen ihrer Bildner, ihre Mythologie eine überaus schöne und ergötzliche Gestalt an. Hingegen die ernste, wahre und tiefe Bedeutung des Lebens war Griechen und Römern verloren gegangen: sie lebten dahin, wie große Kinder, bis das Christenthum kam und sie zum Ernst des Lebens zurückrief.

PHILALETHES. Und um den Erfolg zu beurtheilen, brauchen wir nur das Alterthum mit dem darauf folgenden Mittelalter zu vergleichen, etwan das Zeitalter des Perikles mit dem 13ten Jahrhundert. Kaum glaubt man in beiden die selbe Art von Wesen vor sich zu haben: dort die schönste Entfaltung und Humanität, vortreffliche Staatseinrichtungen, weise Gesetze, klug vertheilte Magistraturen, vernünftig geregelte Freiheit, sämmtliche Künste, nebst Poesie und Philosophie, auf ihrem Gipfel, Werke schaffend, die noch nach Jahrtausenden als unerreichte Muster, beinahe als Werke höherer Wesen, denen wir es nie gleichthun können, dastehn, und dabei das Leben durch die edelste Geselligkeit verschönert, wie das Gastmahl des Xenophon sie uns abschattet. Und nun sieh' hieher, wenn du es vermagst. - Siehe die Zeit, da die Kirche die Geister und die Gewalt die Leiber gefesselt hatte, damit Ritter und Pfaffen ihrem gemeinsamen Lastthiere, dem dritten Stande, die ganze Bürde des Lebens auflegen konnten. Da findest du Faustrecht, Feudalismus und Fanatismus in engem Bunde, und in ihrem Gefolge gräueliche Unwissenheit und Geistesfinsterniß, ihr entsprechende Intoleranz, Glaubenszwiste, Religionskriege, Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen und Inquisitionen; als Form der Geselligkeit aber das aus Rohheit und Geckerei zusammengeflickte Ritterwesen, mit seinen pedantisch ausgebildeten und in ein System gebrachten Fratzen und Flausen, mit degradirendem Aberglauben und affenwürdiger Weiberveneration, von der ein noch vorhandener Rest, die Galanterie, mit wohlverdienter Weiberarroganz bezahlt wird und allen Asiaten dauernden Stoff zu einem Lachen giebt, in welches die Griechen miteingestimmt haben würden. Im goldenen Mittelalter freilich gieng das Ding bis zum förmlichen und methodischen Frauendienst, mit auferlegten Heldenthaten, cours d'amour, schwülstigem Troubadoursgesang u.s.w.; wiewohl zu bemerken ist, daß diese letzteren Possen, die denn doch eine intellektuelle Seite haben, hauptsächlich in Frankreich zu Hause waren; während bei den materiellen und stumpfen Deutschen die Ritter mehr im Saufen und Rauben sich hervorthaten: Humpen und Raubschlösser waren ihre Sache; an den Höfen freilich fehlte es auch nicht an einiger faden Minnesängerei. Wodurch nun hatte die Scene so gewechselt? Durch Völkerwanderung und Christenthum.

DEMOPHELES. Gut, daß du daran erinnerst. Die Völkerwanderung war die Quelle des Uebels und das Christenthum der Damm, an dem es sich brach. Eben für die durch die Fluth der Völkerwanderung herangeschwemmten, rohen, wilden Horden, wurde das Christenthum zunächst das Bändigungs- und Zähmungsmittel. Der rohe Mensch muß zuerst niederknien, Verehrung und Gehorsam erlernen: danach erst kann man ihn civilisiren. Dies leistete, wie in Irland St.Patricius, so in Deutschland Winfried der Sachs und ward ein wahrer Bonifacius. Die Völkerwanderung, dieses letzte Nachrücken asiatischer Stämme nach Europa, dem nur noch fruchtlose Versuche der Art, unter Attila, Dschengischan und Timur und, als komisches Nachspiel, die Zigeuner gefolgt sind, die Völkerwanderung war es, welche die Humanität des Alterthums weggeschwemmt hatte: das Christenthum aber war gerade das der Rohheit entgegenwirkende Princip; wie selbst noch späterhin, das ganze Mittelalter hindurch, die Kirche, mit ihrer Hierarchie, höchst nöthig war, der Rohheit und Barbarei der physischen Gewalthaber, der Fürsten und Ritter, Schranken zu setzen: sie wurde der Eisbrecher dieser mächtigen Schollen. Jedoch ist ja überhaupt der Zweck des Christenthums nicht sowohl, dieses Leben angenehm, als vielmehr uns eines bessern würdig zu machen: über diese Spanne Zeit, über diesen flüchtigen Traum, sieht es weg, um uns dem ewigen Heil zuzuführen. Seine Tendenz ist ethisch, im allerhöchsten, bis dahin in Europa nicht gekannten Sinne des Worts; wie ich dir ja schon, durch Zusammenstellung der Moral und Religion der Alten mit der christlichen, bemerklich gemacht habe.

PHILALETHES. Mit Recht, soweit es die Theorie betrifft: aber sieh die Praxis an. Unstreitig waren, im Vergleich mit den folgenden christlichen Jahrhunderten, die Alten weniger grausam, als das Mittelalter, mit seinen gesuchten Todesmartern und Scheiterhaufen ohne Zahl; ferner waren die Alten sehr duldsam, hielten besonders viel auf Gerechtigkeit, opferten sich häufig fürs Vaterland, zeigten edelmüthige Züge jeder Art und eine so ächte Humanität, daß, bis auf den heutigen Tag, die Bekanntschaft mit ihrem Thun und Denken Humanitätsstudium heißt. Religionskriege, Religionsmetzeleien, Kreuzzüge, Inquisition, nebst andern Ketzergerichten, Ausrottung der Urbevölkerung Amerika's und Einführung Afrikanischer Sklaven an ihre Stelle, - waren Früchte des Christenthums, und nichts ihnen Analoges, oder die Waage Haltendes, ist bei den Alten zu finden: denn die Sklaven der Alten, die familia, die vernae, ein zufriedenes, dem Herrn treu ergebenes Geschlecht, sind von den unglücksäligen, die Menschheit anklagenden Negern der Zuckerplantagen so weit verschieden, wie ihre beiderseitigen Farben. Die allerdings tadelnswerthe Toleranz der Päderastie, welche man hauptsächlich der Moral der Alten vorwirft, ist, gegen die angeführten christlichen Gräuel gehalten, eine Kleinigkeit, und ist solche auch bei den Neueren lange nicht in dem Maaße seltener geworden, als sie weniger zum Vorschein kommt. Kannst du, Alles wohlerwogen, behaupten, daß durch das Christenthum die Menschheit wirklich moralisch besser geworden sei?

DEMOPHELES. Wenn der Erfolg nicht überall der Reinheit und Richtigkeit der Lehre entsprochen hat; so mag es daher kommen, daß diese Lehre zu edel, zu erhaben für die Menschheit gewesen ist, mithin dieser das Ziel zu hoch gesteckt war: der heidnischen Moral nachzukommen war freilich leichter; wie eben auch der mohammedanischen. Sodann steht überall gerade das Erhabenste am meisten dem Mißbrauch und Betruge offen: abusus optimi pessimus: daher haben denn auch jene hohen Lehren mitunter dem abscheulichsten Treiben und wahren Unthaten zum Vorwande gedient. - Der Untergang der alten Staatseinrichtungen aber, wie auch der Künste und Wissenschaften der alten Welt, ist, wie gesagt, dem Eindringen fremder Barbaren zuzuschreiben. Daß danach Unwissenheit und Rohheit die Oberhand gewannen und, als Folge hievon, Gewalt und Betrug sich der Herrschaft bemächtigten, so daß Ritter und Pfaffen auf der Menschheit lasteten, war unausbleiblich. Zum Theil ist es jedoch auch daraus erklärlich, daß die neue Religion statt des zeitlichen, das ewige Heil suchen lehrte, die Einfalt des Herzens dem Wissen des Kopfes vorzog, und allen weltlichen Genüssen, welchen ja auch die Wissenschaften und Künste dienen, abhold war. Soweit jedoch letztere sich der Religion dienstbar machten, wurden sie befördert und erlangen einen gewissen Flor.

PHILALETHES. In gar engem Bereich. Die Wissenschaften aber waren verdächtige Gesellen und wurden als solche in Schranken gehalten; hingegen die liebe Unwissenheit, dieses den Glaubenslehren so nothwendige Element, wurde sorgfältig gepflegt.

DEMOPHELES. Und doch wurde was die Menschheit bis dahin an Wissen sich erworben und in den Schriften der Alten niedergelegt hatte, allein durch die Geistlichkeit, zumal in den Klöstern, vom Untergange gerettet. O, wie wäre es, nach der Völkerwanderung, gekommen, wenn das Christenthum nicht kurz zuvor eingetreten wäre!

PHILALETHES. Es würde wirklich eine höchst nützlich Untersuchung seyn, wenn man ein Mal, mit größter Unbefangenheit und Kälte, die durch die Religionen erlangten Vortheile und die durch dieselben herbeigeführten Nachtheile unpartheiisch, genau und richtig gegen einander abzuwägen versuchte. Dazu bedarf es freilich einer viel größeren Menge historischer und psychologischer Data, als uns Beiden zu Gebote stehn. Akademieen könnten es zum Gegenstand einer Preisfrage machen.

DEMOPHELES. Werden sich hüten.

PHILALETHES. Mich wundert, daß du das sagst: denn es ist ein schlimmes Zeichen für die Religionen. Uebrigens aber giebt es ja auch Akademien, bei deren Fragen die stillschweigende Bedingung ist, daß den Preis erhält wer am besten ihnen nach dem Maule zu reden versteht. - Wenn nur zunächst ein Statistiker uns angeben könnte, wie viele Verbrechen alljährlich aus religiösen Motiven unterbleiben, und wie viele aus andern. Der Ersteren werden gar wenige seyn. Denn, wenn Einer sich versucht fühlt, ein Verbrechen zu begehn, da ist zuverlässig das Erste was sich dem Gedanken daran entgegenstellt, die darauf gesetzte Strafe und die Wahrscheinlichkeit von ihr erreicht zu werden; danach aber kommt, als das Zweite, die Gefahr für seine Ehre in Betracht. An diesen beiden Anstößen wird er, wenn ich nicht irre, Stunden lang ruminiren, ehe ihm die religiösen Rücksichten auch nur einfallen. Ist er aber über jene beiden ersten Schutzwehren gegen das Verbrechen hinweggekommen; so glaube ich, daß höchst selten die Religion ALLEIN ihn noch abhalten wird.

DEMOPHELES. Ich aber glaube, daß sie es recht oft wird; zumal wenn ihr Einfluß schon durch das Medium der Gewohnheit wirkt, so daß der Mensch vor großen Uebelthaten sogleich zurückbebt. Der frühe Eindruck haftet. Bedenke, zur Erläuterung, wie Viele, namentlich vom Adel, ihr gegebenes Versprechen oft mit schweren Opfern erfüllen, ganz allein dadurch bestimmt, daß in der Kindheit ihnen der Vater, mit ernster Miene, oft vorgesagt hat: "ein Mann von Ehre, - oder, ein gentleman, - oder, ein Kavalier, - hält stets und unverbrüchlich sein Wort."

PHILALETHES. Ohne eine gewisse angeborene probitas wirkt auch das nicht. Du darfst überhaupt nicht der Religion zuschreiben, was Folge der angeborenen Güte des Charakters ist, vermöge welcher sein Mitleid mit Dem, den das Verbrechen treffen würde, ihn davon abhält. Dies ist das ächte moralische Motiv und als solches von allen Religionen unabhängig.

DEMOPHELES. Selbst dieses aber wirkt bei dem großen Haufen selten ohne Einkleidung in religiöse Motive, durch die es jedenfalls verstärkt wird. Jedoch auch ohne solche natürliche Unterlage verhüten oft die religiösen Motive für sich allein die Verbrechen: auch darf Dies uns beim Volke nicht wundern, wenn wir ja sehn, daß sogar Leute von hoher Bildung bisweilen unter dem Einfluß, nicht etwan religiöser Motive, denen doch immer die Wahrheit wenigstens allegorisch zum Grunde liegt, sondern selbst des absurdesten Aberglaubens stehn und ihr Leben lang sich von ihm lenken lassen, z.B. Freitags nichts unternehmen, nicht zu Dreizehn am Tische sitzen, zufälligen ominibus gehorchen, u.dgl.m., wie viel mehr das Volk. Du vermagst nur nicht genugsam, dich in die große Beschränktheit roher Geister hineinzudenken: es sieht darin gar finster aus, zumal wenn, wie nur zu oft, ein schlechtes, ungerechtes, boshaftes Herz die Grundlage bildet. Dergleichen Menschen, welche die Masse des Geschlechts ausmachen, muß man einstweilen lenken und bändigen, wie man kann, und geschähe es durch wirklich superstitiose Motive, bis sie für richtigere und bessere empfänglich werden. Von der direkten Wirkung der Religion zeugt aber z.B., daß gar oft, namentlich in Italien, ein Dieb das Gestohlene durch seinen Beichtvater zurückstellen läßt; weil nämlich dieser solches zur Bedingung der Absolution macht. Sodann denke an den Eid, bei welchem ja die Religion den entschiedensten Einfluß zeigt; sei es nun, weil dabei der Mensch sich ausdrücklich auf den Standpunkt eines bloß MORALISCHEN WESENS gestellt und als solches feierlich angerufen sieht, - so scheint man es in Frankreich zu nehmen, wo die Eidesformel bloß ist je le jure, und eben so nimmt man es mit den Quäkern, indem man ihr feierliches Ja, oder Nein, statt des Eides gelten läßt; - oder sei es, daß er wirklich an die Verwirkung seiner ewigen Seeligkeit glaubt, die er dabei ausspricht, - welcher Glaube auch dann wohl nur die Einkleidung des ersteren Gefühls ist. Jedenfalls aber sind die religiösen Vorstellungen das Mittel, seine moralische Natur zu wecken und hervorzurufen. Wie oft sind nicht zugeschobene falsche Eide zuerst angenommen, aber, wenn es zur Sache kam, plötzlich verweigert worden; wodurch dann Wahrheit und Recht den Sieg erlangten.

PHILALETHES. Und noch öfter sind falsche Eide wirklich geschworen worden, wodurch Wahrheit und Recht, bei deutlicher Mitwissenheit aller Zeugen des Akts, mit Füßen getreten wurden. Der Eid ist die metaphysische Eselsbrücke der Juristen: sie sollten sie so selten, als irgend möglich, betreten. Wenn es aber unvermeidlich ist, da sollte es mit größter Feierlichkeit, nie ohne Gegenwart des Geistlichen, ja, sogar in der Kirche, oder in einer dem Gerichtshofe beigegebenen Kapelle, geschehn. In höchst verdächtigen Fällen ist es zweckmäßig, sogar die Schuljugend dabei gegenwärtig seyn zu lassen. Die Französische abstrakte Eidesformel taugt, eben darum, gar nichts: das Abstrahiren vom gegebenen Positiven sollte dem eigenen Gedankengange eines Jeden, dem Grade seiner Bildung gemäß, überlassen bleiben. - Inzwischen hast du Recht, den Eid als unleugbares Beispiel praktischer Wirksamkeit der Religion anzuführen. Daß jedoch diese auch außerdem weit reicht, muß ich, trotz Allem was du gesagt hat, bezweifeln. Denke dir ein Mal, es würden jetzt plötzlich, durch öffentliche Proklamation, alle Kriminalgesetze für aufgehoben erklärt; so glaube ich, daß weder du noch ich den Muth hätten, unter dem Schutz der religiösen Motive, auch nur von hier allein nach Hause zu gehn. Würde hingegen, auf gleiche Weise, alle Religion für unwahr erklärt; so würden wir, unter dem Schutze der Gesetze allein, ohne sonderliche Vermehrung unsrer Besorgnisse und Vorsichtsmaaßregeln, nach wie vor leben. - Aber ich will dir mehr sagen: die Religionen haben sehr häufig einen entschieden demoralisirenden Einfluß. In jeder Religion nämlich kommt es bald dahin, daß für die nächsten Gegenstände des göttlichen Willens nicht sowohl moralische Handlungen, als Glaube, Tempelceremonien und Latreia mancherlei Art ausgegeben werden; ja, allmälig werden die Letzteren, zumal wann sie mit Emolumenten der Priester verknüpft sind, auch als Surrogate der Ersteren betrachtet: Thieropfer im Tempel, oder Messelesenlassen, oder Errichtung von Kapellen, oder Kreuzen am Wege, sind bald die verdienstlichsten Werke, so daß selbst grobe Verbrechen durch sie gesühnt werden, wie auch durch Buße, Unterwerfung der Priesterauktorität, Beichte, Pilgerfahrten, Donationen an die Tempel und ihre Priester, Klosterbauten u.dgl.m., so daß zuletzt die Priester fast nur noch als die Vermittler des Handels mit bestechlichen Göttern erscheinen. Und wenn es auch so weit nicht kommt; wo ist die Religion, deren Bekenner nicht wenigstens Gebete und mancherlei Andachtsübungen für einen wenigstens theilweisen Ersatz des moralischen Wandels halten? Sieh' z.B. nach England, wo dreister Pfaffenbetrug den, von Konstantin dem Großen, in Opposition zum Judensabbath, eingesetzten christlichen Sonntag dennoch mit jenem, sogar dem Namen nach, identifizirt, um Jehova's Satzungen für den Sabbath, d.h. den Tag, da die von sechstätiger Arbeit ermüdete Allmacht sich ausruhen mußte, auf den Sonntag der Christen, diesen Tag der Andacht und Freude, zu übertragen und wo demnach das sabbathbreaking, oder the desacration of the Sabbath, d.h. jede, auch die leichteste, nützliche, oder angenehme Beschäftigung, jedes Spiel, jede Musik, jeder Strickstrumpf, jedes weltliche Buch, am Sonntage, den schweren Sünden beigezählt wird. Muß da nicht der gemeine Mann glauben, daß, wenn er nur allezeit, wie ihm seine geistlichen Lenker vorsagen, a strict observance of the holy sabbath, and a regular attendance on divine service beobachtet, d.h. wenn er nur am Sonntage unverbrüchlich, recht gründlich faulenzt und nicht verfehlt, zwei Stunden in der Kirche zu sitzen, um dieselbe Litanei zum tausendsten Male anzuhören und a tempo mitzuplappern, - er dafür wohl anderweitig auf Nachsicht mit Diesem und Jenem, was er sich gelegentlich erlaubt, rechnen darf? - Der demoralisirende Einfluß der Religionen ist also weniger problematisch, als der moralisirende. Wie groß und gewiß müßte hingegen nicht dieser seyn, um einen Ersatz zu bieten für die Gräuel, welche die Religionen, namentlich die Christliche und Mohammedanische, hervorgerufen und den Jammer, welchen sie über die Welt gebracht haben! Denke an den Fanatismus, an die endlosen Verfolgungen, an die Religionskriege, an die Kreuzzüge, die ein zweihundertjähriges, ganz unverantwortliches Gemetzel, mit dem Feldgeschrei "Gott will es", waren, um das Grab Dessen, der Liebe und Duldung gepredigt hat, zu erobern; denke an die Bluthochzeiten, an die Inquisitionen, und andern Ketzergerichte, nicht weniger an die blutigen und großen Eroberungen der Mohammedaner in drei Welttheilen; dann aber auch an die der Christen in Amerika, dessen Bewohner sie größtentheils, auf Kuba sogar gänzlich, ausgerottet und, nach Las Casas, binnen 40 Jahren, zwölf Millionen Menschen gemordet haben, versteht sich Alles in majorem Dei gloriam und zum Behuf der Verbreitung des Evangeliums und weil überdies was nicht Christ war auch nicht als Mensch angesehn wurde. Zwar habe ich diese Dinge schon vorhin berührt: aber wenn noch in unsern Tagen "Neueste Nachrichten aus dem Reiche Gottes"3 gedruckt werden, wollen auch wir nicht müde werden, diese älteren Nachrichten in Erinnerung zu bringen. Besonders laß uns Indien nicht vergessen, diesen heiligen Boden, diese Wiege des Menschengeschlechts, wenigstens der Rasse, welcher wir angehören, woselbst zuerst Mohammedaner und nachher Christen auf das Gräuelichste gegen die Anhänger des heiligen Urglaubens der Menschheit gewüthet haben und die ewig beklagenswerthe, muthwillige und grausame Zerstörung und Verunstaltung urältester Tempel und Götterbilder noch jetzt die Spuren des monotheistischen Wüthens der Mohammedaner uns vorhält, wie es von Mahmud dem Ghazneviden, verfluchten Andenkens, an, bis zum Aureng-Zeb, dem Brudermörder, herab, betrieben wurde, welchen nachher es gleich zu thun die portugiesischen Christen sich treulich bemüht haben, sowohl durch Tempelzerstörungen als durch Autos de Fe der Inquisition zu Goa. Auch das auserwählte Volk Gottes laß uns nicht vergessen, welches, nachdem es, in Aegypten, auf Jehova's ausdrücklichen Special-Befehl, seinen alten, zutrauensvollen Freunden die dargeliehenen goldenen und silbernen Gefäße gestohlen hatte, nunmehr, den Mörder Moses an der Spitze, seinen Raubzug ins gelobte Land antrat, um, auf desselben Jehova's Befehl, unter Rauben und Morden, es den rechtmäßigen Besitzern zu entreißen, - weil sie eben nicht beschnitten waren und den Jehova nicht kannten, welches Grund genug war, alle Gräuel gegen sie zu rechtfertigen; wie ja, aus demselben Grunde, auch früher die infame Schurkerei des Patriarchen Jakob und seiner Auserwählten gegen Hemor, den König von Salem und sein Volk uns (1.Mos.34) ganz glorreich erzählt wird, weil ja eben die Leute Ungläubige waren. Wahrlich Dies ist die schlimmste Seite der Religionen, daß die Gläubigen einer jeden gegen die aller andern sich Alles erlaubt halten und daher mit der äußersten Ruchlosigkeit und Grausamkeit gegen sie verfahren: so die Mohammedaner gegen Christen und Hindu; die Christen gegen Hindu, Mohammedaner, amerikanische Völker, Neger, Juden, Ketzer u.s.f. Doch gehe ich vielleicht zu weit, wenn ich sage ALLE Religionen: denn, zur Steuer der Wahrheit muß ich hinzufügen, daß die aus diesem Grundsatz entsprungenen fanatischen Gräuel uns eigentlich doch nur von den Anhängern der monotheistischen Religionen, also allein des Judenthums und seiner zwei Verzweigungen, Christenthum, und Islam, bekannt sind. Von Hindu und Buddhaisten wird Dergleichen uns nicht berichtet. Obwohl wir nämlich wissen, daß der Buddhaismus, etwan im 5ten Jahrhundert unsrer Zeitrechnung, aus seiner ursprünglichen Heimath, der vordersten Halbinsel Indiens, von den Brahmanen vertrieben worden ist, wonach er sich über ganz Asien ausgebreitet hat; so haben wir doch, meines Wissens, keine bestimmte Kunde von Gewaltthätigkeiten, Kriegen und Grausamkeiten, durch die es geschehn wäre. Allerdings mag Dies der Dunkelheit zuzuschreiben seyn, in welche die Geschichte jener Länder gehüllt ist: doch läßt der überaus milde Charakter jener, Schonung alles LEBENDEN unaufhörlich einprägenden Religionen, wie auch der Umstand, daß der Brahmanismus, wegen des Kastenwesens, eigentlich keine Proselyten zuläßt, uns hoffen, daß ihre Anhänger von Blutvergießen im Großen und Grausamkeiten jeder Art sich frei gehalten haben. - Auf die Hauptsache zurückzukommen; so hast du gewiß Recht, das starke metaphysische Bedürfniß des Menschen zu urgiren: aber die Religionen scheinen mir nicht sowohl die Befriedigung, als der Mißbrauch desselben zu seyn. Wenigstens haben wir gesehn, daß in Hinsicht auf Beförderung der Moralität ihr Nutzen großentheils problematisch ist, ihre Nachtheile hingegen und zumal die Gräuelthaten, welche in ihrem Gefolge sich eingestellt haben, am Tage liegen. Anders freilich stellt sich die Sache, wenn wir den Nutzen der Religionen als Stützen der Throne in Erwägung ziehen: denn sofern diese von Gottes Gnaden verliehen sind, stehn Altar und Thron in genauer Verwandtschaft. Auch wird demnach jeder weise Fürst, der seinen Thron und seine Familie liebt, stets als ein Muster wahrer Religiosität seinem Volke vorangehn; wie denn auch sogar Macchiavelli den Fürsten die Religiosität dringend anempfiehlt, im 18ten Kapitel. Ueberdies könnte man anführen, daß die geoffenbarten Religionen zur Philosophie sich gerade so verhielten, wie die Souveräne von Gottes Gnaden zur Souveränität des Volkes; weshalb denn die beiden vordern Glieder dieser Gleichung in natürlicher Allianz ständen.

DEMOPHELES. O, nur diesen Ton stimme nicht an! Sondern bedenke, daß du damit in das Horn der Ochlokratie und Anarchie stoßen würdest, des Erzfeindes alles gesetzlichen Ordnung, aller Civilisation und aller Humanität.

PHILALETHES. Du hast Recht. Es waren eben Sophismen, oder was die Fechtmeister Sauhiebe nennen. Ich nehme es also zurück. Aber sieh, wie doch das Disputiren mitunter auch den Redlichen ungerecht und boshaft machen kann. Laß uns also abbrechen.

DEMOPHELES. Zwar muß ich, nach aller angewandten Mühe, bedauern, deine Stimmung in Hinsicht auf die Religionen nicht geändert zu haben: dagegen aber kann auch ich dich versichern, daß Alles, was du vorgebracht hast, meine Ueberzeugung vom hohen Werth und der Nothwendigkeit derselben durchaus nicht erschüttert hat.

PHILALETHES. Das glaube ich dir:

A man convinc'd against his will
Is of the same opinion still.4
Aber ich tröste mich damit, daß bei Kontroversen und Mineralbädern die Nachwirkung erst die eigentliche ist.

DEMOPHELES. So wünsche ich dir eine gesegnete Nachwirkung.

PHILALETHES. Könnte sich vielleicht einstellen, wenn mir nur nicht wieder ein spanisches Sprichwort auf dem Magen läge.

DEMOPHELES. Und das lautet?

PHILALETHES. Detras de la cruz está el Diablo.

DEMOPHELES. Zu deutsch, Spaniard!

PHILALETHES. Aufzuwarten! - "Hinterm Kreuze steht der Teufel."

1 Illustrations of the history and practice of the Thugs. London 1837, auch Edinburgh' Review, Octr.-Jan. 1836/37.

2 Vergl. oben §. 115.

3 Zeitschrift, welche über die Leistungen der Missionen berichtet.

4

Wer überzeugt wird wider Willen
Bleibt seiner Meinung doch im Stillen.
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