Russel, Bertrand, Earl. R., englischer Mathematiker u. Philosoph, geb. 18.5.1872 Trellack, gest. 2.2.1970 Penrhyndeudraeth, Wales; Hauptvertreter der mathemat. Logik, philosoph. im wesentl. Neurealist mit phänomenalist.-positivist. Zügen; 1950 Literaturnobelpreis; als Pazifist u. Gegner der Atombewaffnung auch polit. hervorgetreten. Hptw.: (mit A. N. Whitehead) "Principia mathematica" 3 Bde. 1910-1915, Vorwort und Einleitung dt.: "Einführung in die mathemat. Logik" 1932, Neuausg. 1953; "Probleme der Philosophie" 1912; "The Analysis of Mind" 1921, dt. 1927; "The Analysis of Matter" 1927, dt. 1929; "Philosophie des Abendlandes" 1946, dt. 1950 u. 1954; "Das menschl. Wissen" 1948, dt. 1952; "Warum ich kein Christ bin" 1967, dt. 1963 (seltsam, steht aber im Lexikon); Autobiographie 3 Bde. 1967-1969, dt. 1967-1971; "Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens" dt. 1973.
"Warum ich kein Christ bin" war ursprünglich ein Vortrag aus dem Jahre 1927. Unter anderem werden dort die gängigen "Gottesbeweise" widerlegt. Ich möchte aber nur den Teil vorstellen, der sich mit der Person Jesu beschäftigt. Der vollständige Text findet sich - allerdings auf Englisch - unter http://www.users.drew.edu/~jlenz/whynot.html
Mängel in der Lehre Christi
Nachdem ich die Vortrefflichkeit dieser Maximen eingeräumt habe,
komme ich zu gewissen Einzelheiten, bei denen man meiner Meinung
nach Christus, wie er in den Evangelien geschildert wird,
weder die höchste Weisheit noch die höchste Güte zuerkennen
kann; und hier darf ich noch einfügen, daß ich mich nicht mit der
historischen Frage befasse. Geschichtlich gesehen ist es ziemlich
zweifelhaft, ob Christus überhaupt jemals gelebt hat, und wenn ja,
so wissen wir nichts über ihn. Deshalb beschäftige ich mich nicht
mit der historischen Frage, die sehr schwierig ist, sondern mit Christus,
wie er in den Evangelien auftritt, wobei ich die Erzählungen
der Evangelien so nehme, wie sie geschrieben stehen. Da findet sich
nun einiges, das nicht sehr weise erscheint. Zunächst einmal glaubte
er gewiß, daß er noch vor dem Tode aller seiner Zeitgenossen in
Wolken der Glorie wiederkehren würde. Es gibt viele Textstellen,
die das beweisen. Er sagt beispielsweise: "Ihr werdet noch nicht
fertig sein mit den Städten Israels, bis der Menschensohn kommt."
Dann sagt er: "Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod
nicht kosten, bis sie den Menschensohn in seinem Reiche kommen
sehen." Und es gibt noch viele Stellen, in denen es ganz deutlich
ist, daß er der Meinung war, er werde zu Lebzeiten vieler damals
Lebender wiederkehren. Das war auch der Glaube seiner frühen
Anhänger und die Grundlage eines großen Teils seiner Sittenlehre.
Wenn er sagte: "Sorget nicht ängstlich für den morgigen Tag",
und ähnliches, so größtenteils deshalb, weil er glaubte, er werde
sehr bald wiederkehren und alle gewöhnlichen irdischen Angelegenheiten
seien bedeutungslos. Ich habe tatsächlich einige Christen
gekannt, die glaubten, seine Wiederkehr stehe kurz bevor. Ein
Geistlicher, den ich kannte, jagte seiner Gemeinde eine schreckliche
Angst ein, indem er ihr sagte, die Wiederkehr Christi stehe wahrhaftig
unmittelbar bevor; aber als sie sahen, daß er in seinem Garten
Bäume pflanzte, waren sie wieder beruhigt. Die frühen Christen
glaubten wirklich daran, und sie unterließen solche Dinge,
wie in ihren Gärten Bäume zu pflanzen, da sie von Christus den
Glauben übernahmen, daß die Wiederkehr nahe bevorstehe. In dieser
Hinsicht war er eindeutig nicht so klug wie manche andere
Menschen, und die höchste Weisheit besaß er ganz gewiß nicht.
Das moralische Problem
Wenden wir uns nunmehr moralischen Fragen zu. Christus hatte
nach meiner Ansicht einen sehr schweren Charakterfehler, nämlich
daß er an die Hölle glaubte. Ich meinerseits finde nicht, daß jemand,
der wirklich zutiefst menschenfreundlich ist, an eine ewigwährende
Strafe glauben kann. Christus, wie er in den Evangelien geschildert
wird, glaubte ganz gewiß an eine ewige Strafe, und wiederholt
findet man in ihnen eine rachsüchtige Wut auf jene Menschen, die
auf seine Predigten nicht hören wollten - eine bei Predigern nicht
ungewöhnliche Haltung, die aber die höchste Vortrefflichkeit etwas
in Frage stellt. Bei Sokrates beispielsweise findet man diese Einstellung
nicht. Er ist gegenüber den Menschen, die nicht auf ihn
hören wollten, höflich und verbindlich, und meiner Meinung nach
ist diese Haltung eines Weisen viel würdiger als die der Entrüstung.
Sie erinnern sich wahrscheinlich alle daran, was Sokrates vor seinem
Tode sprach, und an jene Worte, die er im allgemeinen zu Leuten
sagte, die mit ihm nicht übereinstimmten.
Christus sagte in den Evangelien: "Ihr Schlangen- und Natterngezücht!
Wie werdet ihr der Verurteilung zur Hölle entrinnen?", und
zwar sagte er es zu Leuten, denen seine Predigten nicht gefielen.
Nach meiner Meinung ist das nicht gerade das beste Verhalten.
Es gibt jedoch viele derartige Stellen über die Hölle, zum Beispiel
den bekannten Ausspruch über die Sünde wider den Heiligen Geist:
"Wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser
noch in der künftigen Welt vergeben werden." Diese Stelle hat
in der Welt unaussprechliches Elend verursacht, denn alle möglichen
Leute glaubten, sie hätten wider den Heiligen Geist gesündigt und
es würde ihnen weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben
werden. Ich finde wahrhaftig nicht, daß ein Mensch, dessen
Natur ein rechtes Maß an Güte enthält, soviel Angst und Schrecken
in die Welt gesetzt hätte.
Dann sagt Christus: "Der Menschensohn wird seine Engel aussenden.
Diese werden aus seinem Reiche alle Verführer und Übeltäter
sammeln und werden sie in den Feuerofen werden. Da wird
Heulen und Zähneknirschen sein." Und über das Heulen und Zähneknirschen
spricht er immer wieder. Es kommt in einem Vers nach
dem andern vor, und deshalb ist es für den Leser ganz offenbar, daß
ihm die Vorstellung des Heulens und Zähneknirschens ein gewisses
Vergnügen bereitete. Dann erinnern Sie sich natürlich alle an
die Stelle über die Schafe und Böcke, wie er bei seiner Wiederkehr
zu den Böcken sagen wird: "Weicht von mir, all ihr Übeltäter, in
das ewige Feuer." Er fährt fort: "Und sie werden in das ewige
Feuer gehen." Dann wieder sagt er: "Wenn deine Hand dir Ärgernis
gibt, so haue sie ab; es ist für dich besser, verstümmelt ins Leben
einzugehen, als mit zwei Händen in die Hölle zu fahren, in das
unauslöschliche Feuer, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht
erlischt." Auch das wiederholt er immer wieder. Ich muß sagen,
daß diese ganze Lehre vom Höllenfeuer als Strafe für die Sünde
eine grausame Lehre ist. Sie hat Grausamkeit in die Welt gebracht
und für Generationen unbarmherzige Foltern. Und könnte man
annehmen, daß der Christus der Evangelien auch in Wirklichkeit
so war, wie ihn seine Chronisten darstellen, so müßte man ihn
gewiß zum Teil dafür verantwortlich machen.
Es gibt aber noch andere Dinge von geringerer Bedeutung. Da ist
die Begebenheit mit den Gadarener Säuen, wo es den Schweinen
gegenüber ganz gewiß nicht sehr nett war, die Teufel in sie fahren
zu lassen, so daß sie den Hügel hinab ins Meer stürmten. Sie müssen
bedenken, daß er allmächtig war und die Teufel einfach hätte
fortschicken können; aber er zog es vor, sie in die Säue fahren zu
lassen. Sie erinnern sich sicher auch an die seltsame Geschichte vom
Feigenbaum, von der ich nie wußte, was ich davon halten solle.
"Des anderen Tages aber, da sie von Bethanien weggingen, hungerte
ihn. Er sah von ferne einen Feigenbaum, der Blätter hatte, und
ging hinzu, ob er wohl etwas an ihm fände. Als er aber hinzukam,
fand er nichts als Blätter, denn es war nicht Feigenzeit. Da sprach er
zu ihm: Niemals esse jemand wieder eine Frucht von dir in Ewigkeit! ...
Und Petrus ... sagte zu ihm: Meister, sieh, der Feigenbaum,
den du verflucht hast, ist verdorrt." Das ist eine sehr eigenartige
Geschichte, weil man dem Feigenbaum wirklich keinen Vorwurf daraus
machen konnte, daß es nicht die rechte Jahreszeit für Feigen
war. Ich meinerseits kann nicht finden, daß Christus an Weisheit
oder Tugend ganz so hoch steht wie einige andere geschichtliche
Persönlichkeiten. In dieser Hinsicht würde ich Buddha oder Sokrates
noch über ihn stellen.